Der Rücktritt eines angeklagten Bundeskanzlers ist ein notwendiger Akt politischer Hygiene. Und auch unabdingbar, um Ehre und Anstand des Amtes zu wahren. Das gilt trotz Unschuldsvermutung. Irmgard Griss
Soll der Bundeskanzler zurücktreten, wenn er wegen falscher Aussage vor dem Untersuchungsausschuss angeklagt wird? Dagegen wird immer wieder eingewandt, der Unrechtsgehalt einer falschen Aussage sei gering. Es gehe weder um Korruption noch um ein anderes schweres Verbrechen. Eine falsche Aussage als quasi lässliche Sünde?
Ohne Wahrheitspflicht wären Gerichtsverfahren zahnlos. Natürlich gibt es Sachbeweise, doch sie stehen nicht immer zur Verfügung. Könnten Zeugen ungestraft eine frei erfundene und möglicherweise mit anderen abgesprochene Geschichte zum Besten geben, bliebe vieles unaufgeklärt. Genauso ist es im Untersuchungsausschuss. Nur die Wahrheitspflicht stellt sicher, dass Geschehnisse nicht geschönt oder das eigene Verhalten auf andere Weise in ein besseres Licht gerückt wird.
Es ist somit keine lässliche Sünde, wenn unter Wahrheitspflicht falsch ausgesagt wird. Beim Untersuchungsausschuss kommt noch etwas Wesentliches hinzu. Mit dem Untersuchungsausschuss kontrolliert das Parlament die Arbeit der Regierung. Er ist die Einrichtung einer parlamentarischen Demokratie, durch die Gewaltentrennung mit Leben erfüllt wird. Diese stellt sicher, dass Macht nicht unkontrolliert ausgeübt wird. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Kontrolle ist für die Demokratie überlebensnotwendig.
Und noch etwas ist zu beachten. Politiker haben eine Vorbildfunktion. Ihr Verhalten muss nicht bloß rechtlichen, sondern auch moralischen Standards genügen. Moralisch handeln heißt, Verantwortung für das zu übernehmen, was in der Welt geschieht. Dieser Verantwortung werden Politiker nicht gerecht, wenn sie die Durchsetzung von Recht als feindlichen Akt diskreditieren, der gegen ihre Person gerichtet ist. Damit verstärken sie die Polarisierung und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Die großen Herausforderungen wie Klimakrise, Folgen der Pandemie, demografische Entwicklung, Strukturwandel in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt können aber nur gemeinsam und durch die ehrliche Suche nach tragfähigen Kompromissen bewältigt werden.
Der Rücktritt eines angeklagten Bundeskanzlers ist daher ein notwendiger Akt politischer Hygiene. Und auch unabdingbar, um Ehre und Ansehen des Amtes zu wahren. Das gilt trotz Unschuldsvermutung. Denn Ehre und Ansehen des Amtes werden schon dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass die Verdachtsgründe eine Verurteilung wahrscheinlicher machen als einen Freispruch. Nur dann kommt es zur Anklage.