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Soll der Kanzler zurücktreten, wenn Anklage erhoben wird?

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt gegen den Kanzler wegen des Verdachts der falschen Zeugenaussage vor dem U-Ausschuss. Was ist, wenn gegen den Kanzler Anklage erhoben wird? Irmgard Griss, ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes und Alfred Noll, Jurist und Hochschullehrer, im "Pro & Kontra".

Pro & Kontra

Der Rücktritt eines angeklagten Bundeskanzlers ist ein notwendiger Akt politischer Hygiene. Und auch unabdingbar, um Ehre und Anstand des Amtes zu wahren. Das gilt trotz Unschuldsvermutung. Irmgard Griss

Soll der Bundeskanzler zurücktreten, wenn er wegen falscher Aussage vor dem Untersuchungsausschuss angeklagt wird? Dagegen wird immer wieder eingewandt, der Unrechtsgehalt einer falschen Aussage sei gering. Es gehe weder um Korruption noch um ein anderes schweres Verbrechen. Eine falsche Aussage als quasi lässliche Sünde?

Ohne Wahrheitspflicht wären Gerichtsverfahren zahnlos. Natürlich gibt es Sachbeweise, doch sie stehen nicht immer zur Verfügung. Könnten Zeugen ungestraft eine frei erfundene und möglicherweise mit anderen abgesprochene Geschichte zum Besten geben, bliebe vieles unaufgeklärt. Genauso ist es im Untersuchungsausschuss. Nur die Wahrheitspflicht stellt sicher, dass Geschehnisse nicht geschönt oder das eigene Verhalten auf andere Weise in ein besseres Licht gerückt wird.

Es ist somit keine lässliche Sünde, wenn unter Wahrheitspflicht falsch ausgesagt wird. Beim Untersuchungsausschuss kommt noch etwas Wesentliches hinzu. Mit dem Untersuchungsausschuss kontrolliert das Parlament die Arbeit der Regierung. Er ist die Einrichtung einer parlamentarischen Demokratie, durch die Gewaltentrennung mit Leben erfüllt wird. Diese stellt sicher, dass Macht nicht unkontrolliert ausgeübt wird. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Kontrolle ist für die Demokratie überlebensnotwendig.

Und noch etwas ist zu beachten. Politiker haben eine Vorbildfunktion. Ihr Verhalten muss nicht bloß rechtlichen, sondern auch moralischen Standards genügen. Moralisch handeln heißt, Verantwortung für das zu übernehmen, was in der Welt geschieht. Dieser Verantwortung werden Politiker nicht gerecht, wenn sie die Durchsetzung von Recht als feindlichen Akt diskreditieren, der gegen ihre Person gerichtet ist. Damit verstärken sie die Polarisierung und tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Die großen Herausforderungen wie Klimakrise, Folgen der Pandemie, demografische Entwicklung, Strukturwandel in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt können aber nur gemeinsam und durch die ehrliche Suche nach tragfähigen Kompromissen bewältigt werden.

Der Rücktritt eines angeklagten Bundeskanzlers ist daher ein notwendiger Akt politischer Hygiene. Und auch unabdingbar, um Ehre und Ansehen des Amtes zu wahren. Das gilt trotz Unschuldsvermutung. Denn Ehre und Ansehen des Amtes werden schon dadurch in Mitleidenschaft gezogen, dass die Verdachtsgründe eine Verurteilung wahrscheinlicher machen als einen Freispruch. Nur dann kommt es zur Anklage.

Kontra

Die Unschuldsvermutung ist ein zivilisatorischer Fortschritt und gilt auch für den Kanzler. Dass Politiker höheren moralischen Standards genügen müssen, ist eine bedenkliche Forderung. Wessen Moral wäre entscheidend? Alfred Noll

Wer sich die Mitteilung der Staatsanwaltschaft an Herrn Kurz durchliest, hat ausreichend Gründe, anzunehmen, dass es zu einer Anklage gegen den Bundeskanzler kommen wird – da ist ein gewisser „Zug zur Erledigung“ herauszulesen. Kaum bekannt geworden, stellte sich die Opposition die Frage, ob ein Strafantrag gegen Sebastian Kurz notwendigerweise dessen Rücktritt als Kanzler erfordere. Und wie bei den Pawlow’schen Zwingerhunden schon die Schritte des Besitzers den Speichelfluss auslösten, obwohl noch gar kein Futter in Sicht war, ertönte unisono die Forderung: Wenn er angeklagt werde, müsse er zurücktreten.

Der Automatismus Anklage – Rücktritt ist bedenklich: Für uns alle sollte Artikel 6 Absatz 2 EMRK eine „secular religion“ sein: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.“ Die Unschuldsvermutung ist ein zivilisatorischer Fortschritt. In der Sache heißt dies nichts anderes, als dass vor einer Verurteilung – abgesehen von Sicherungsmaßnahmen – keine Konsequenzen an einen bestehenden Verdacht geknüpft werden dürfen. Dem wird entgegengehalten, dass Politiker höheren moralischen Anforderungen unterstünden als wir „Normalmenschen“. Ich sehe nicht, dass sich dies begründen ließe. Wessen Moral wäre entscheidend? Die Moral derjenigen, die am lautesten brüllen und sich der Medien als gefällige Verstärker bedienen?

Dieses zivilisatorischen Fortschritts sollten wir nicht im Gewirr tausenderlei verschiedener Moralvorstellungen und des dadurch verursachten Moral-Tohuwabohus verlustig gehen. Auch und gerade für Politiker sollte gelten: Sie haben den Gesetzen zu folgen. Wenn sie nachgewiesenermaßen (!) dagegen verstoßen haben, sollten sie gehen. Wer bei einer bloßen Anklageerhebung eine zwingende Verpflichtung zum Rücktritt sieht, der unterminiert die Unschuldsvermutung.

Die Unschuldsvermutung sollte „abwägungsfest“ sein. Wer an diesem zivilisatorischen Fortschritt festhalten will, muss „Nachteile“ in Kauf nehmen. Ein unter Anklage stehender Kanzler mag eine Belastung für die Republik sein – aber das Mittel gegen diese Belastung ist nicht der sich moralisch überlegen dünkende Rücktrittsbefehl, sondern die Geltendmachung der politischen Verantwortlichkeit durch den Nationalrat – oder eben eine Gesetzesänderung, aus der sich bei Anklageerhebung eine Rücktrittspflicht für den Politiker ergibt.

Ein Freibrief für Herrn Kurz ist das nicht – und eine Verteidigung schon gar nicht.

 

Der Artikel erschien am 24. Mai 2021 in der Kleine Zeitung.

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