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Höchste Eisenbahn für Europas Industrie

Wir leben in historisch unsicheren Zeiten. Dazu trägt das erratische Verhalten der US-Regierung in Sachen Handelspolitik genauso bei wie bewaffnete Konflikte, etwa im Nahen Osten. Das ist gerade auch für die Industrie ein Problem, die sich bei Standortentscheidungen auf Lieferketten, Energiepreise oder Steuerpolitik verlassen muss. Was Europas Industrie jetzt braucht, und was Europa von der Industrie verlangen kann. 

Die Welt ist aktuell unsicher wie selten zuvor. Das zeigt sich etwa auch am US-amerikanischen Angriff auf den Iran in der Nacht von 22. auf 23. Juni, der nicht nur in der Region direkt Folgen hatte, sondern auch zu weltweiten Verunsicherungen führte, etwa an der Börse. Die Ölpreise sind merklich gestiegen. Es besteht auch ein hohes Risiko für erneute Höhenflüge bei den Preisen für importiertes Erdgas, von dem Europa immer noch in hohem Maß abhängig ist. Unsicherheit ist nicht nur ein Gefühl, sondern sie lässt sich messen. Der World Uncertainty Index quantifiziert, wie sicher oder unsicher die Welt ist. Und wir erleben gerade ein ungeahntes Hoch der Unsicherheit.

Das ist alles Gift für den europäischen Standort, denn die Industrie leidet schon jetzt an hohen Inputkosten für Energie und Arbeitskraft. Energie ist im internationalen Vergleich etwa deutlich teurer als in den USA, steuerbedingt kosten Arbeitsstunden in Europa auch deutlich mehr als anderswo. Nun kommt die Unsicherheit an sich noch dazu, die der Wirtschaft schadet. Denn Unsicherheit erhöht die Schwankungen an den Kapitalmärkten, bremst den Konsum und erschwert es Unternehmen, große strategische Investitionen zu tätigen, da sich das Umfeld, in dem sie operieren, jeden Tag radikal ändern könnte. Die negativen Folgen treffen die europäische Industrie ausgerechnet in einer Phase, in der sie bekanntermaßen ohnehin schon mit mangelnder Wettbewerbsfähigkeit kämpft, wie man etwa im Draghi-Bericht nachlesen kann.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist der drohende Kollaps des internationalen Freihandels, der durch immer neue Handelskriege abgelöst worden zu sein scheint. Im April 2025 eskalierten die USA ihren seit 2018 bestehenden Handelskrieg mit China weiter. Seit 5. April wird auf alle Importe in die USA ein Basiszoll von 10 Prozent eingehoben. Dazu kommen weitere Zölle für ausgewählte Länder und Regionen. 20 Prozent (allerdings ausgesetzt bis 9. Juli) gelten für die EU. Für Waren aus China galten zu Spitzenzeiten Einfuhrtaxen von 145 Prozent. Die Wochen nach dem sogenannten Liberation Day waren geprägt von Chaos an den Finanzmärkten und in Unternehmenszentralen: Zölle wurden verhängt, erhöht, gesenkt, von Gerichten aufgehoben, die Gerichtsurteile aufgehoben, Deals angekündigt, abgesagt und manchmal sogar abgeschlossen. So etwa mit dem Vereinigten Königreich oder mit China. Durch die US-Zölle droht das weltweite Handelsvolumen deutlich abzunehmen, und sollten die USA ihre Zollpolitik nicht radikal revidieren, wird das weltweite BIP laut einer Prognose von Oxford Economics 2025 wohl um 0,3 Prozentpunkte weniger wachsen als noch im März angenommen. Für Österreich, eine kleine offene Volkswirtschaft, sind das keine guten Vorzeichen, wie das WIFO warnt.

Sand im Getriebe: Die Autoindustrie hat Schwierigkeiten

Eine Branche, die in Europa besonders hart getroffen wurde, ist die Autoindustrie. Nach Angaben der Branchenvertretung kosteten die US-Zölle die deutschen Autobauer allein im April etwa eine halbe Milliarde Euro. Dazu kommen massive Kollateralschäden durch Chinas Ausfuhrbeschränkungen auf seltene Erden. Mehrere europäische Produktionsanlagen waren bereits zum Stillstand gekommen, da diese nicht mehr über genügend Rohstoffe verfügten, um die Produktion weiterzuführen. Mittlerweile hat China seine Ausfuhrbestimmungen wieder ein wenig gelockert. Dennoch bleibt große Unsicherheit, da China den Großteil aller weltweiten seltenen Erden kontrolliert: Es raffiniert 100 Prozent aller schweren Seltenerdmetalle, 98 Prozent des gesamten Galliums, 93 Prozent des gesamten Germaniums und 82 Prozent des gesamten Wismuts weltweit. Das ist nicht nur schlecht für den Autobau, sondern auch ein Risiko für die Rüstungsindustrie. Ein weiterer Grund, warum gerade die Autobranche so große Schwierigkeiten hat, ist, dass die USA der wichtigste Handelspartner für EU-Autoexporte sind. Zölle treffen hier also besonders hart. Das sind auch schlechte Nachrichten für Österreich. Denn mit einer Exportquote von 84,5 Prozent ist die heimische Autoindustrie (inklusive Zulieferer) in besonders hohem Maß vom Außenhandel abhängig. Der größte Handelspartner ist Deutschland. Und die USA sind der wichtigste Außenhandelspartner Deutschlands.

Wettbewerbsfähigkeit: Abstieg in die zweite Liga? 

Die Industrie der EU ist damit preislich im internationalen Wettbewerb massiv unter Druck. Energiepreise und Lohnstückkosten sind in den Jahren massiv gestiegen. Auch langfristig zeigt sich bei den Lohnstückkosten ein klarer und kontinuierlicher Aufwärtstrend. Besonders gravierend ist die Lage in Österreich, wo die Lohnstückkosten derzeit am stärksten in der EU steigen. Auch im alljährlichen Wettbewerbsranking des Institute for Management Development ist das Land im Vergleich zu 2024 erneut weiter zurückgefallen. Das gilt nicht nur für die Gesamtwertung, sondern auch für fast alle Teilbereiche.

Was zu tun ist

Das sind also die schlechten Nachrichten. Wo sind die guten? Einerseits ist da die Europäische Kommission, die verstanden hat, wie ernst die Lage ist. Mit dem Europäischen Wettbewerbskompass hat sie einen klaren Gesamtplan vorgelegt, wie die EU innovativer werden, eine nachhaltige Energieversorgung gewährleisten und seine Sicherheit drastisch erhöhen kann. Mit dem Clean Industrial Deal, der strategischen Initiative 2030 (vormals ReArm Europe), dem Aktionsplan für erschwingliche Energie und dem EU-Industrieplan für die Automobilindustrie sowie der Omnibus-Initiative „Bürokratiebremse“ hat die Kommission bereits sehr viel an wichtiger Vorarbeit geleistet, um von allgemeinen Strategien zur konkreten Umsetzung zu gelangen.

Während manche Vorschläge der Kommission im Detail durchaus zu kritisieren sind, kann auch Österreich nötige Reformen selbst umzusetzen. Das betrifft etwa die Energiekosten, die durch mehr Wettbewerb zwischen den – oft teilstaatlichen – Anbietern oder Reformen bei den Netzentgelten sinken können. Österreich kann sich langfristig durch moderne Netze, selbst produzierte Wind- und Wasserkraft, aber auch mit Wasserstoffinfrastruktur neu aufstellen. Die Lohnstückkosten könnten kurz- bis mittelfristig durch eine Senkung der Lohnnebenkosten reduziert werden. Dadurch würden Unternehmen mehr Spielraum bekommen, und Arbeitnehmer:innen könnten weiterhin ihre Kaufkraft erhalten.

Österreichs Industriestandort ist jedenfalls ein kritischer Faktor für den Wohlstand. Das gilt nicht nur wegen der direkten Wertschöpfung und Beschäftigung, die der Sektor erwirtschaftet, sondern vor allem, weil an einer leistungsfähigen Industrie langfristig auch ein starker Dienstleistungssektor hängt.

(Bild: Anna Listishenko/iStock)

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