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Die psychische Pandemie und hausgemachte Hürden

Jugend I. Systematische Versäumnisse verschärfen die Auswirkungen der Coronakrise auf die psychische Gesundheit junger Menschen. Ein Kommentar von Dieter Feierabend.
Photo: Anthony Tran (Unsplash)

Dieser Tage begehen wir ein Jubiläum, auf das alle von uns gern verzichtet hätten: ein Jahr leben in und mit der Pandemie. „Der größte Fehler ist, sich nicht zu bewegen“, „Geschwindigkeit übertrumpft die Perfektion“ – diese Zitate von Michael Ryan, dem Direktor des Programms für Gesundheitsnotfälle der WHO, vom März 2020 lassen sich bei heutiger Betrachtung als Leitlinien für Politik und Behörden definieren. Während in einigen Bereichen, beispielsweise in der Entwicklung von Impfstoffen, in kurzer Zeit viel gelungen ist, sehen wir in anderen Bereichen, etwa bei Home-Office-Regelungen, kaum Fortschritte.
Bei wichtigen Themen für unsere Gesellschaft spitzt sich die Situation sogar zu. So haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten in Krems, Wien und Ulm untersucht, wie es um die psychische Gesundheit der österreichischen Jugendlichen während Covid-19-bedingter sozialer Distanzierung und Home-Schooling steht. 

Fast eine Million arbeitslos

Die Ergebnisse sind erschreckend: 55 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer weisen klinisch relevante depressive Symptome auf, 23 Prozent Schlaflosigkeit, 64 Prozent Symptome einer Essstörung und 16 Prozent der Jugendlichen geben an, Suizidgedanken zu haben.

Vielfältige Ursachen

Während wir aus vielen Untersuchungen wissen, dass sich im vergangenen Jahr die psychische Gesundheit bei vielen Bevölkerungsgruppen verschlechtert hat, zeigten diese Daten erstmals, wie es um die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Österreich steht. Die Ergebnisse decken sich mit international vergleichbaren Studien, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden.

Die Gründe für die massive Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind vielfältig, beispielsweise Unsicherheiten in der Ausbildung, auf dem Arbeitsmarkt oder die Folgen sozialer Isolation. Erschwerend kommt hinzu, dass schon vor der Pandemie eine „Behandlungslücke“ bei psychischen Erkrankungen bestand. Die Differenz zwischen der Prävalenz, also der Häufigkeit einer Erkrankung, und den Behandlungsraten ist gerade bei Jungen sehr ausgeprägt, die Unterversorgung also ein großes Problem.

Die Pandemie verschärft damit eine Lage, die in Österreich durch hausgemachte Hürden in der psychischen Gesundheitsversorgung schon zuvor angespannt war. Wir gehören zwar zu den Ländern mit der höchsten Ärztedichte in Europa. Gleichzeitig sehen wir in bestimmten Bereichen einen Rückgang: 2010 gab es in Wien 91 Kassenstellen für Kinder- und Jugendärzte, 2019 waren es nur mehr 84, obwohl die Bevölkerung Wiens in diesem Zeitraum um über 200.000 Personen gewachsen ist. Auch die psychische Gesundheitsversorgung ist verbesserungswürdig: Wer in der Stadt Basel, 200.000 Einwohner, medizinisches Fachpersonal sucht, findet über 200 niedergelassene Psychiater und 93 Psychologen mit Kassenverträgen. Niederösterreich hat 1.684.287 Einwohner und hatte laut regionalem Strukturplan Gesundheit 2016 22,3 Planstellen für niedergelassene Fachärzte mit Kassenvertrag. Bis 2025 sollen diese auf 27,9 Planstellen angehoben werden.

Entschlossen handeln

Diese Kombination von fehlender Primärversorgung (Kinder- und Jugendärzte) und Schwächen im entsprechenden Fachbereich (Psychiater und Psychologen) ist gerade jetzt unheilvoll. Schon vor der Pandemie war die Versorgung bezüglich psychischer Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, gerade in ländlichen Regionen, oftmals am Rand der Kapazitäten. Umso wichtiger ist es, jetzt entschlossen zu handeln.

Die Europäische Union hat mit „NextGenerationEU“ ein Aufbauinstrument geschaffen, um die unmittelbar coronabedingten Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft abzufedern. Hierzu müssen die Mitgliedsländer bis Ende April sogenannte Aufbau- und Resilienzpläne vorlegen. Angesichts der Evidenz sollte die Bundesregierung der psychischen Gesundheit einen wichtigen Stellenwert einräumen.

Für jene Gruppen, die derzeit einer besonderen psychischen Belastung ausgesetzt sind, braucht es ein Maßnahmenpaket, um das psychische Wohlbefinden sicherzustellen und so Symptome einer verschlechterten psychischen Gesundheit, wie Stress oder Angstzustände, zu lindern und Erkrankungen zeitnah zu behandeln. Ebenso muss die psychische Gesundheit bei Maßnahmen und Kommunikation von Covid-19-Maßnahmen verstärkt mitgedacht werden. Dies kann nur gelingen, wenn Empfehlungen erarbeitet werden, die es der Bevölkerung erlauben, ihre (psychosozialen) Bedürfnisse zu decken, auch wenn Kontaktreduktion geboten ist.

Während Covid-19 ist es zu einer verstärkten Nutzung von E-Health-Leistungen gekommen. Dies sollte zum Anlass genommen werden, E-Health-Lösungen in der psychischen Gesundheitsversorgung zu verankern. Hierbei können wir uns an Vorreitern wie den Niederlanden orientieren, die seit der Jahrtausendwende eine große Reihe von Online-Behandlungsmodulen für Erkrankungen (u. a. Depressionen, Angstzustände, oder Stress bei der Arbeit) entwickelt haben. Da bei der Entwicklung Effektivität und Kostenwirksamkeit zentrale Parameter waren, konnte ein flächendeckendes Angebot schnell entwickelt werden.
Die Schule ist ein wichtiger Ort für den Umgang mit der psychischen Gesundheit. Nicht nur, dass im Unterricht mit entsprechenden Materialien die Gesundheitskompetenzen von Kindern und Jugendlichen gestärkt werden können, sie eignet sich auch sehr gut, um gesundheitliche Probleme früh zu erkennen. Dies ist wichtig, da umfangreiche Literatur zeigt, dass es gerade nachteilige Erfahrungen während der Kindheit sind, die die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen langfristig beeinflussen und Quelle von vielen psychischen Störungen sind.

Niederschwellige Angebote

Mögliche Maßnahmen wären ein erhöhter Einsatz therapeutisch geschulten Personals an Schulen und eine flächendeckende Bereitstellung niederschwelliger Beratungsangebote, eine Erhöhung des Unterstützungspersonals im psychosozialen Bereich und ein flächendeckendes Screening-Angebot für die psychosoziale Gesundheit im Schulumfeld. Grundsätzliches Ziel muss sein, das Wissen über psychische Gesundheit zu erhöhen, möglichst früh auftretende Probleme zu erkennen und Maßnahmen einzuleiten. Damit gelingt ein Systemwechsel von der Akuttherapie hin zur Prävention, also der Erhaltung eines guten psychischen Gesundheitszustands.

Langfristig ist ein Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur notwendig, wobei eine Kassenregelung für Psychotherapie auf Krankenschein, ein Ausbau von niedergelassenen Angeboten, insbesondere in ländlichen Regionen, und eine gute Gesamtplanung von Leistungen, Angeboten und Indikatoren für Wirkungsketten zu entwickeln sind. Sich nicht zu bewegen wäre der größte Fehler, den wir in dieser Situation machen könnten.

Der Gastkommentar von Dieter Feierabend erschien am 17. März 2021 in DiePresse.

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