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Wie schlimm es um den Rechtsstaat steht

Die Untersuchungskommission zur Causa Pilnacek spricht von einer Zwei-Klassen Justiz, die sich in unserem Land etabliert habe. Die meisten Zusammenfassungen vermitteln aber nur einen schwachen Eindruck vom Ausmaß des Reformbedarfs. Das NEOS Lab hat sich den gesamten, 232 Seiten langen Abschlussbericht der Kommission durchgelesen und einige der wichtigsten Punkte zusammengefasst.

Nach den Skandalen um den verstorbenen, ehemaligen Sektionschef im Justizministerium Christian Pilnacek, hat Justizministerin Alma Zadić am 14. Dezember 2023 eine Untersuchungskommission eingesetzt: Ihre Aufgabe war es, zu beurteilen, ob es politisch motivierte Einflussnahme auf staatsanwaltschaftliche Vorgänge gegeben hat. Die Antwort ist ein eindeutiges „Ja“.

Die Kommission bestand aus ursprünglich sieben, dann sechs hochkarätigen Jurist:innen. Ein Kommissionsmitglied schied aus Befangenheitsgründen freiwillig aus. Um ihren Auftrag zu erfüllen, nahm die Kommission Einblick in Akten bzw. Aktenteile. Sie führte Gespräche mit freiwilligen Auskunftspersonen und sie nahm anonyme Hinweise entgegen. Weil sie kein Gericht ist, hat die Kommission kein Urteil gesprochen, sondern lediglich eine Bewertung der ihr bekannten Tatsachen vorgenommen.

Mangel an Weisungen

Im Bericht kommen mehrere Schilderungen von Fällen vor, in denen (v. a.) Pilnacek (in seiner Funktion) laufende Verfahren mutmaßlich aus sachfremden, teils parteipolitischen Motiven beeinflusst hat. Um dieses gesetzwidrige Vorgehen zu verschleiern, haben sich leitende Beamte im Justizministerium wiederholt und systematisch ihrer Führungs-Verantwortung entzogen. Statt das gesetzlich vorgesehene Mittel der Weisung zu nutzen, beeinflussten sie ihre Untergebenen durch Druck und Schein-Einvernehmlichkeit. Unter Sektionschef Pilnacek war es üblich, Meinungsverschiedenheiten in formellen Dienstbesprechungen zu diskutieren. Diese Dienstbesprechungen waren oftmals durch ein feindseliges Klima geprägt und es kam wiederholt vor, dass Pilnacek rangniedrigere Beamte anschrie.

Er hatte Mittel und Möglichkeit, Untergebenen die Karriere zu ruinieren, was auch in zumindest einem Fall vorkam (S. 196).  Resultat solcher Dienstbesprechungen, in denen zum Teil erheblicher Druck aufgebaut wurde, waren sogenannte „einvernehmliche“ Lösungen, die nur mangelhaft protokolliert wurden. Dadurch war es für von Verfahren Betroffene trotz ihres Rechts auf Akteneinsicht nicht möglich, nachzuvollziehen, wie Entscheidungen zustande gekommen sind. Seit der Entmachtung Pilnaceks durch die Trennung der Sektionen für Einzelstrafsachen und Straflegistik im September 2020 sind Dienstbesprechungen in der oben beschriebenen Form nicht mehr vorgekommen (S. 93).

Privilegierter Zugang zur Weisungsspitze

René Benko kaufte sich 2011 den Berggasthof Schlössle in Oberlech und errichtete dort das mittlerweile wegen mutmaßlichen Missbrauchs von Corona Förderungen in Verruf geratene „Chalet-N“. Die Gemeinde hatte ein Vorkaufsrecht, auf das sie für den Preis von 250.000,00 Euro verzichtete. So weit so legal. Doch mutmaßlich hat Benko der Gemeinde weitere 250.000,00 Euro dafür angeboten, Bewilligungsverfahren zu beschleunigen, was ein klarer Bestechungsversuch wäre. Es gibt diesbezüglich Zeugenaussagen mehrerer Gemeindevertreter sowie einen Aktenvermerk. Auf dieser Grundlage begann die Wirtschafts- und Korruptionsstaatanwaltschaft (WKStA) ab 2015 gegen Benko zu ermitteln und verfasste auch den Entwurf einer Anklageschrift wegen Bestechung. Normal sollte man meinen – wenn alle vor dem Gesetz gleich sind. Doch erstens erfuhr Benko von den Ermittlungen, noch bevor Anklage erhoben wurde. Und zweitens erstattete sein Anwalt danach zwei Mal der Leiterin der zuständigen Oberstaatsanwaltschaft einen Besuch ab und legte ihr eine abweichende Darstellung des Sachverhalts vor. Das ist schon nicht mehr so normal. Was dann folgte, ist nun wirklich überhaupt nicht mehr normal: Denn es wurde nun nicht nur die rechtliche Beurteilung, sondern der Sachverhalt geändert; Und zwar auf Druck der Oberstaatsanwältin. Die Zeugenaussagen wurden in Zweifel gestellt, der Niederschrift des Bestechungsversuchs galt plötzlich nicht mehr als Beweis, und Benko war fein raus. Vorerst.

"Privilegierte Elite"?

Die oben geschilderte Art von direktem Kontakt mit Verdächtigen bzw. Beschuldigten sowie direkte Beeinflussungen laufender Verfahren waren leider keine Ausnahme. So empfing Christian Pilnacek am 4. Februar 2020 zwei Beschuldigte im CASAG Prozess, Josef Pröll und Walter Rothensteiner, in seinem Büro im Justizministerium. Auch Rechtsvertreter in anderen Causen und Personen mit parteipolitischem Bezug waren bei Pilnacek zu Gast. Diese Treffen wurden in der Regel nicht in die Akten aufgenommen und auch nicht schriftlich dokumentiert. Die Folge solcher Interventionen war eine Flut an Aufsichtsbeschwerden gegen die fallführenden Beamten, womit das eigentliche Ermitteln „gezielt behindert“ wurde. Anscheinend gibt es also eine privilegierte Elite im Land, die sich, wenn gegen sie ermittelt wird, einfach im Justizministerium beschweren geht, und dann ist Ruhe.

Verfahren verschleppt

Verfahren wurden auch dadurch beeinflusst, dass man der Staatsanwaltschaft absichtlich zu wenig Ressourcen zuteilte. Dadurch wurden Verfahren „aus politischen Gründen […] bewusst in die Länge gezogen“ (S. 116). Das ist nicht nur demokratiepolitisch problematisch, sondern noch dazu eine potenzielle Menschenrechtsverletzung, weil nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) jede:r das Recht hat, dass seine Sache „innerhalb einer angemessenen Frist“ vor einem Gericht gehört wird. Es ist Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) legt nahe, dass mehr als ein Jahr pro Instanz oder eine gesamte Verfahrensdauer über 10 Jahren nicht mehr als angemessen gilt. Mehrere öffentlich bekannte Verfahren dauerten auffällig lange:

  • In der Causa Stadterweiterungsfonds dauerte es 7 Jahre bis zum erstinstanzlichen Freispruch aller Angeklagten.
  • Das Verfahren rund um die Meinl European Land (MEL) dauerte 15 Jahre und wurde eingestellt. Es wurde von nur einem Staatsanwalt betreut.
  • Die Causa Eurofighter dauerte bisher 13 Jahre und wurde teilweise eingestellt. Auch hier war nur ein einziger Staatsanwalt zuständig.
  • Das Verfahren in der Inseratenaffäre rund um Werner Faymann und seinen ehemaligen Kabinettschef Josef Ostermayer dauerte 8 Jahre und wurde ebenfalls eingestellt.

Laut Kommissionsbericht hat die von Pilnacek geleitete Fachaufsicht in allen diesen Fällen weitere Verzögerungen bewirkt, statt die Verfahren zu beschleunigen. Auch die Tatsache, dass Großprozesse gegen eine Bank (MEL) und gegen einen internationalen Rüstungskonzern (Eurofighter) je von nur einem Staatsanwalt betreut wurden, spricht Bände. In der Causa Eurofighter kam es am 1. April 2019 zu einer Dienstbesprechung, in der sich zeigte, dass das Verfahren der Justiz entglitten war. Die WKStA forderte mehr Personal zur Abarbeitung des Verfahrens. Eine Anzeige wegen Amtsmissbrauch stand im Raum, und es drohte ein Gesichtsverlust der Justiz vor der Öffentlichkeit. Pilnaceks Lösungsansatz „daschlogt’s es“ ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden, und führte zur teilweisen Einstellung des Verfahrens (S. 90).

Postenkorruption

Dass österreichische Ministerien Posten nicht immer nach dem Leistungsprinzip vergeben, ist ebenso dokumentiert. Im Justizministerium hat die Kommission deutliche Anhaltspunkte für eine gezielte Beeinflussung bei der Stellenbesetzung gefunden. Ebenso kam es vor, dass durch die Ressortspitze mit dem Ziel interveniert wurde, bestimmte Personen aus ihrer damaligen Funktion zu entfernen oder sie an einer Bewerbung zu hindern. Konkrete Beispiele sind:

  • Die Besetzung der Oberstaatsanwaltschaft Wien mit einer Person die von der Personalkommission nicht als am besten geeignet gesehen wurde (S. 194).
  • Die rechtswidrige Degradierung eines Abteilungsleiters (S. 195);
  • Der Versuch Pilnaceks, seiner Frau den Posten der Präsidentin des Oberlandesgerichts Graz zu verschaffen, indem er beim damaligen steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer intervenierte (S. 196).

Wesentlich ist hier der Zusammenhang von Ämterpatronage mit anderen Erscheinungsformen von Korruption. Die Kommission drückte es präzise aus: „Wer seiner Parteinähe den privilegierten Zugang zu einem öffentlichen Amt verdankt, wird unter Umständen dazu neigen, sich auch bei von ihm zu treffenden Entscheidungen von parteipolitischer Opportunität leiten zu lassen“ (S. 191).

Man wundert sich noch immer, was alles möglich ist.

(Bild: misterfarmer / Pixabay)

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