Die Rede im englischen Original
„Ich bin optimistisch, was Europa betrifft“ – Rede an die Freiheit 2025
EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos betonte in ihrer Rede, wie wichtig eine starke und geeinte EU für unsere Freiheit ist – und warb für deren Erweiterung. Die ganze Rede in deutscher Übersetzung zum Nachlesen.

© Stefan Popovici-Sachim
Vor zwei Wochen war ich in Paris. Auf dem Weg zum französischen Senat kamen wir am Pantheon vorbei, dem Ort, an dem Simone Veil begraben liegt.
Simone Veil war eine Überlebende des Holocaust. Eine Ikone des Feminismus. Eine Verfechterin der Menschenwürde und der europäischen Versöhnung. Und die erste direkt gewählte Präsidentin des Europäischen Parlaments.
Wir haben am Panthéon Halt gemacht wegen eines Zitats von Simone Veil, das zum Leitmotiv meiner Amtszeit als Kommissarin für Erweiterung geworden ist.
In ihrer ersten Rede als Präsidentin des Europäischen Parlaments sagte sie:
„Alle Mitgliedstaaten stehen vor drei großen Herausforderungen: der Herausforderung des Friedens, der Herausforderung der Freiheit und der Herausforderung des Wohlstands, und es scheint klar, dass diese nur durch die europäische Dimension bewältigt werden können.“
Kommt Ihnen das bekannt vor? Manche Dinge ändern sich nicht.
In derselben Rede beschrieb sie Europa als „Insel der Freiheit, umgeben von Regimes, in denen Gewalt herrscht“. Und sie argumentierte, dass wir zur Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa Griechenland, Spanien und Portugal aufnehmen und stabilisieren sollten. Drei Länder, die sich gerade von Diktaturen befreit hatten. Das haben wir getan, und es hat funktioniert.
Der Traum vom vereinten Europa
Nach dem Ende des Kalten Krieges folgten wir dem gleichen Modell. Ich war Journalistin in Deutschland, als Europa die größte geopolitische Transformation seit dem Zweiten Weltkrieg durchlief. Wir sahen den Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Sowjetunion. Wir sahen die Wiedervereinigung Deutschlands. Und wir träumten von der Vereinigung unseres gesamten Kontinents.
Dass diese geopolitischen Veränderungen ohne einen großen europäischen Krieg stattfanden, war keine Selbstverständlichkeit. Es war das Ergebnis verantwortungsvoller Staatskunst: von Helmut Kohl, François Mitterrand und Michail Gorbatschow, großen Europäern.
Mit jeder Erweiterungswelle räumten wir die Trümmer auf, die zwei Weltkriege und Diktaturen hinterlassen haben.
In den 1980er Jahren war es Südeuropa, das sich wieder der Familie der Demokratien anschloss.
Österreich im Zentrum Europas
1995 trat Österreich bei. Ich spürte die Auswirkungen. Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland verschwand, was mir die Fahrt nach Bonn, wo ich als Journalistin arbeitete, deutlich erleichterte. Seitdem haben Sie Ihre Mitgliedschaft erfolgreich gestaltet. Sie sind wieder ins Zentrum Europas gerückt.
Und dann, Anfang der 2000er Jahre, beendeten wir das, was der Schriftsteller Milan Kundera einmal als „die Entführung eines Teils des Westens“ bezeichnete.
In gewisser Weise haben wir die Welt wiederbelebt, die Stefan Zweig und Joseph Roth als Mitteleuropa beschrieben haben, in dem Prag, Wien und Budapest grenzenlos eng miteinander verwoben sind, einen gemeinsamen Raum, in dem Österreicher, Polen, Tschechen, Slowenen und Ungarn wirtschaftlich, kulturell und menschlich verbunden sind.
Ich habe diese Jahre miterlebt. Ich erinnere mich an die Begeisterung und die wachsende Freiheit. Etwas, das ich in meiner Jugend für unmöglich gehalten hätte.
Die vergessene Aufgabe
Aber wir haben vergessen, die Aufgabe zu vollenden: die europäische Einigung.
Bei meiner Ankunft heute führten mich Außenministerin Meinl-Reisinger und Europaabgeordneter Brandstätter in den alten Plenarsaal dieses Parlaments. Ich wollte einen Parlamentssaal sehen, in dem einst Österreicher, Polen, Serben, Tschechen, Slowenen und Ukrainer gemeinsam saßen.
Die Wiedereingliederung der Ukraine in europäische Strukturen ist keine neue Idee. Sie bedeutet die Heilung der Wunden, die zwei Weltkriege hinterlassen haben.
Nirgends wird dies deutlicher als hier in Wien.
Verlassen Sie das Parlamentsgebäude und gehen Sie links die Ringstraße entlang. Sie gelangen dann zum Universitätsgebäude, an dem der große ukrainische Schriftsteller Iwan Franko sein Studium abschloss.
Wenn Sie nach rechts gehen, gelangen Sie zum Palais Ephrussi. Es war einst das Zuhause einer Familie aus der Ukraine. Sie handelten mit Getreide aus Odessa über das Schwarze Meer.
Oder nehmen wir Charkiw, genau wie Wien und Brüssel, eine der großen Städte des Jugendstils und des Art Déco, die uns an eine Zeit erinnert, in der große europäische Ideen und nicht Aggression und Bombardierungen diese Stadt prägten.
Dasselbe gilt für Moldau. Jahrhundertelang war es kulturell und spirituell Teil Europas. Nicht die Geografie, sondern der Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939, eine der dunkelsten Stunden der europäischen Geschichte, machte es zu einer Sowjetrepublik. Moldaus Beitritt zur EU wird dieses beschämende Kapitel der Geschichte abschließen.
EU-Mitgliedschaft als Instrument der Versöhnung
Und der Westbalkan? Ein Blick auf die Karte genügt, um zu erkennen, dass seine Integration in die EU längst überfällig ist.
Ich betrachte es als einen der traurigsten Momente unserer Europäischen Union, dass wir – mit Ausnahme von Slowenien und Kroatien – dem Modell, das in den 1980er und frühen 2000er Jahren so erfolgreich war, nicht folgen konnten.
Es ist uns nicht gelungen, die glaubwürdige Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft als Instrument zur Versöhnung zu nutzen, diese Grenzen wieder abzuschaffen und zur Beilegung bilateraler Konflikte beizutragen.
Zu meiner Zeit als junge Frau in Jugoslawien waren die Grenzen dieser Region unsichtbar. Heute stehen Lastwagen an den Grenzübergängen Schlange, die einen einst lebendigen Wirtschafts- und Kulturraum teilen. Das muss aufhören.
EU-Osterweiterung: Rückkehr zur europäischen Normalität
Die Osterweiterung der EU ist keine Revolution. Man muss sich davor nicht fürchten. Sie ist die Rückkehr zur europäischen Normalität.
Für mich ist dies der lange Weg zur Freiheit für alle Europäer.
Politische Zeitfenster öffnen und schließen sich.
In den letzten 15 Jahren war die EU von einer Schuldenkrise, den Herausforderungen der Migration, dem Austritt eines Mitglieds und den Folgen der Pandemie geprägt. Unser Fokus richtete sich hauptsächlich nach innen.
Doch das hat sich geändert. Heute ist unser Kontinent wieder in Bewegung.
Freiheit in Gefahr
Heute sehen wir, wie die Flut der Freiheit zurückgeht, und Europa läuft erneut Gefahr, zu einer Insel zu werden, die von Autokratien umgeben ist.
Die Situation, in der wir uns heute befinden, ist in vielerlei Hinsicht gefährlicher als in den 1990er Jahren. Denn die politische Mitte war noch nie so klein. Kräfte aus dem Inneren schwächen uns.
Heute führen die Ukrainer einen Krieg, von dem ich dachte, wir hätten ihn hinter uns gelassen. Sie zahlen den höchstmöglichen Preis dafür, dass wir Europäer es versäumt haben, Simone Veils Worte auf unserem Kontinent zum Maßstab zu machen. Sie zahlen den Preis dafür, dass wir Grauzonen auf unserem Kontinent hinterlassen haben.
Heute stehen wir Europäer vor denselben grundlegenden Fragen wie die Gründerväter des europäischen Integrationsprozesses: Wollen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und souverän über unsere Zukunft entscheiden? Wollen wir die Einigung Europas vollenden, um endlich unabhängig zu werden? Oder lassen wir andere über unsere Zukunft bestimmen?
Den Kontinent von Autokratien befreien
Ich sehe unsere Arbeit mit den EU-Beitrittskandidaten in diesem größeren Kontext. Wir müssen Kräften entgegentreten, die unseren Kontinent destabilisieren wollen. Wir müssen unseren Kontinent von Autokratien befreien.
Wie können wir dies effektiv umsetzen, wenn weiterhin geografische Lücken auf unserem Kontinent bestehen?
Die Schließung dieser Lücken bedeutet, Europa stabiler, unabhängiger, sicherer und freier zu machen. Unsere Erweiterungspolitik ist ein wirksames Instrument, um die Freiheitslücken zu schließen.
Es stärkt die Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen und freie Medien. Zudem integriert es diese Länder in unseren Binnenmarkt und führt zu größerer Energieunabhängigkeit. Die Einbindung von Beitrittskandidaten in den Sicherheitsrahmen der EU bedeutet gemeinsame Geheimdienstinformationen und koordiniertes Handeln statt Fragmentierung.
Es schließt Lücken, die von unseren Feinden und Kriminellen ausgenutzt werden. Und es führt zu einer besseren Kontrolle von Migration, Korruption und organisierter Kriminalität.
Trotz alledem wird die Erweiterung allzu oft mit einer Schwächung unserer Union in Verbindung gebracht. Wir müssen diese Assoziation aufbrechen. Wir müssen deutlicher machen, dass eine größere Union – richtig umgesetzt – Europa stärkt.
Wie also machen wir es richtig? Wie können wir die Aufgabe zu Ende bringen und die Einigung Europas vollenden?
Wir müssen auf drei Ebenen Fortschritte erzielen.
Zunächst müssen wir glaubwürdige Fortschritte erzielen, um sicherzustellen, dass künftige Mitgliedstaaten zu 100 Prozent auf die Übernahme der mit der Mitgliedschaft verbundenen Verantwortung vorbereitet sind. Es darf keine Abkürzungen geben.
Jede Erweiterung muss uns stärken
Ich werde oft gefragt: Bedeuten diese geopolitischen Argumente, dass wir die Augen verschließen und neue Mitglieder ungeachtet der Umstände aufnehmen sollten? Nein, mehr denn je ist das Gegenteil der Fall. Wenn demokratische Strukturen schwach sind oder der Rechtsstaat fehlt, öffnet dies russischem Einfluss, Korruption und organisierter Kriminalität Tür und Tor. Jede Erweiterung muss unsere Union stärken. Das ist nur möglich, wenn die Reformen von höchster Qualität sind.
Zweitens muss sich die EU auf neue Mitglieder vorbereiten. Die Kommission arbeitet derzeit an einer Vorprüfung der Beitrittsbereitschaft. Wir müssen wissen, welche Auswirkungen die künftige Erweiterung auf wichtige Politikbereiche haben wird.
Wir müssen den Sorgen und Ängsten unserer Bürgerinnen und Bürger in der gesamten Union überzeugende Antworten geben. Sie fragen: Was bedeutet das für das Modell der sozialen Sicherung? Wie können wir die Kontrolle unserer Grenzen gewährleisten? Was bedeutet das für das Funktionieren unserer Union?
Gleichzeitig müssen die Kommunikationsbemühungen verstärkt werden, um mit den Bürgern über die Vorteile und Herausforderungen der Erweiterung zu sprechen. Zwei Drittel der Europäer geben an, derzeit nicht ausreichend informiert zu sein.
Eine der Fragen, die mir oft gestellt wird, lautet: Wie kann man sicherstellen, dass neue Mitglieder bei den Verpflichtungen, die sie im Rahmen des Erweiterungsprozesses eingegangen sind, keine Rückschritte machen? Geht es um die Rechtsstaatlichkeit oder um die Grundrechte?
Wie kann man sicherstellen, dass niemand sein Veto im Interesse einer fremden Macht missbraucht, die Europa spalten und schwächen will? Nicht sofort, aber vielleicht in fünf oder zehn Jahren?
Wir müssen eine offene Diskussion darüber führen, welche Schutzmaßnahmen wir in künftige Beitrittsverträge aufnehmen werden, um unseren Bürgerinnen und Bürgern zu versichern, dass die Integrität unserer Union geschützt ist.
Um es klarzustellen – denn das kann missverstanden werden – ich schlage keine Mitgliedschaft mit weniger Rechten oder ohne Stimmrecht vor. Jeder muss volle Rechte und volle Pflichten haben. Wir sprechen hier über Schutzmaßnahmen gegen Rückschritte.
Die dritte Herausforderung besteht darin, die Erweiterung deutlich umfassender zu denken. Wir müssen künftige Mitglieder bereits jetzt in die EU-Strukturen einbinden. Dies trägt der geopolitischen Realität in unserer Nachbarschaft Rechnung.
Es geht um Sicherheit
Als sich mein Land, Slowenien, auf den EU-Beitritt vorbereitete, wurde dies vor allem unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Integration betrachtet. Die EU stand für Wohlstand. Heute geht es vielmehr um Sicherheit.
Wir sehen, dass unsere Nachbarn angegriffen werden, wenn sie sich für eine europäische Zukunft entscheiden.
Der Krieg in der Ukraine begann, als Kiew sich Europa zuwandte, um seine Freiheit und Demokratie zu festigen. Putin akzeptierte die Existenz der Ukraine, solange er ihre Führung kontrollierte. Doch er konnte eine freie und demokratische Ukraine, die an ihrer unabhängigen Zukunft arbeitete, nicht hinnehmen.
Heute blicken unsere Beitrittskandidaten auf die EU, um sich vor diesen Angriffen zu schützen. Das können wir erreichen, indem wir die europäische Integration schon heute, nicht erst morgen, verwirklichen.
Dies berührt einige der Kernelemente der Europäischen Union – vom Binnenmarkt über Energie bis hin zur Sicherheit. Wir integrieren die Ukraine, Moldau und den Westbalkan bereits in gesamteuropäische Wertschöpfungsketten, um Risiken zu minimieren und Investitionen anzuziehen. Bis 2027 werden die Ukraine und Moldau vollständig in den EU-Energiemarkt integriert sein und unsere zukünftigen Mitglieder so vor russischer Energieerpressung schützen.
Europäische Integration ist bereits Realität.
Sicherheitsnetz für die Demokratie
Der nächste Schritt in dieser Logik sollte darin bestehen, ein Sicherheitsnetz für die Demokratie über unseren Kontinent zu spannen, um die Freiheit in ganz Europa zu verankern. Gestern hat die Kommission neue Instrumente zum Schutz von Freiheit und Demokratie vorgeschlagen.
Wir haben den Demokratie-Schutzschild verabschiedet, der durch ein Medien-Resilienzprogramm ergänzt wird. Außerdem haben wir eine neue Strategie zur Unterstützung der Zivilgesellschaft vorgeschlagen.
Wir können diese Instrumente nicht losgelöst von unseren Kandidatenländern betrachten.
Im Kampf für Freiheit und Demokratie sitzen wir alle im selben Boot. Und ehrlich gesagt sind unsere östlichen Nachbarn in vielerlei Hinsicht bereits die erfahreneren Seeleute.
Dies zeigte sich dieses Jahr deutlich in Moldawien, wo Russland erfolglos hunderte Millionen ausgab, um proeuropäische demokratische Kräfte zu untergraben. Und wo sie zum fünften Mal seit 2020 scheiterten.
Die Strategien der hybriden Kriegsführung, die zuerst gegen die Demokratien der Ukraine und Moldawiens eingesetzt wurden, fanden sich später auch in anderen Teilen Europas wieder. Dieselben Social-Media-Konten, die in Moldawien Desinformationen verbreiteten, waren später während der Präsidentschaftswahlen in Rumänien und Polen aktiv. Dies ermöglichte es Russland, Georgien nur noch dem Namen nach als Kandidatenland zu etablieren. Und man sollte sich auf einen ähnlichen Versuch in Armenien vorbereiten.
Aber wenn wir zusammenarbeiten – und das ist die Lehre, die wir in Moldawien gezogen haben – können wir diese schwierigen Gewässer durchqueren.
Hoffnung für Europa
All diese Entwicklungen stimmen mich hoffnungsvoll für Europa.
Als Simone Veil 1979 Europa als eine Insel der Freiheit beschrieb, die von Regimen umgeben war, in denen Gewalt herrschte, war diese Insel sehr klein und auf die nordöstliche Ecke unseres Kontinents beschränkt.
Mehrere Expansionswellen haben uns verändert. Heute sind wir 450 Millionen Menschen. Unsere Wirtschaft ist zehnmal so groß wie die Russlands. Und wir sind weitaus innovativer und technologisch fortschrittlicher. Wir blicken oft nach Amerika und bewundern dessen Kühnheit, den Innovationsgeist des Silicon Valley und den unermüdlichen Drang nach Innovation. Wir blicken nach China und sehen dessen Größe und Geschwindigkeit.
Aber es gibt nichts, was mit Europa nicht in Ordnung ist, was wir nicht gemeinsam mit Europa beheben könnten.
Ein geeintes und selbstbewusstes Europa kann diesen Sturm überstehen.
Ja, ich bin optimistisch, was Europa betrifft.
Ich weiß, dass wir mit einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit die Feinde der Freiheit gemeinsam bekämpfen können.
Ich sehe, wie Reformen in Montenegro, Albanien, der Ukraine und Moldau den Wandel vorantreiben. Und selbst in Serbien beschreitet eine junge Generation neue Wege, indem sie Rechenschaftspflicht, freie Meinungsäußerung und eine inklusive Demokratie fordert.
Ich weiß, dass wir die Kraft haben, die Initiative zu ergreifen und die Kontrolle über unseren eigenen Kontinent zu übernehmen.
Genau wie zu Simone Veils Zeiten und auch nach dem Kalten Krieg müssen wir uns der Herausforderung stellen und Europa auf dem langen Weg zur Freiheit voranbringen.
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