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Demokratie braucht Bildung, Bildung braucht Demokratie

Clemens Ableidinger
Clemens Ableidinger

Wie können Schulen das Demokratiebewusstsein stärken? Politische Bildung allein reicht nicht, demokratische Mitbestimmung und Diskussion sollte auch zu einem Teil der Schulgemeinschaft werden.

Die gesellschaftliche Polarisierung macht vor der Schule nicht halt. Auch wenn in der medialen Darstellung oft ein monolithisches Bild der Jugend präsentiert wird, sind selbstverständlich auch unter jungen Menschen die verschiedensten Weltanschauungen und sozialen sowie politischen Prägungen verbreitet. Man sollte sich nicht täuschen: Diskussionen über die richtigen Klimaschutzmaßnahmen, politische Mitbestimmung und Kontroversen über „Wokeness“ finden nicht nur unter Erwachsenen, sondern selbstverständlich auch innerhalb der Klassenzimmer statt.

Doch nicht nur weltanschaulich ist Österreich bunt. Wir sind längst zu einer Migrationsgesellschaft geworden, wo – vor allem in den Städten – Personen unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe und Religion mit- und nebeneinander leben. Dadurch ergeben sich zwangsläufig Fragen, was angesichts dieser Unterschiedlichkeiten getan oder angeboten werden muss, um ein friedfertiges Zusammenleben zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten.

„Wie viel Gemeinschaft“ die Demokratie „braucht“, ist daher eigentlich eine Frage, die sich schon seit Jahrzehnten stellt und nicht erst, wenn sich gesellschaftliche Konflikte angesichts aktueller weltpolitischer Ereignisse auftun, wie nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nichtsdestotrotz stellt sie sich nach diesem Schicksalstag in besonderer, nämlich drängender Weise. Denn der „neue“ Krieg im Nahen Osten ist kein rein territorialer Konflikt, sondern hat – wie die Überfälle auf Juden und Jüdinnen sowie Synagogen in Europa und den USA zeigen – auch eine religiöse und kulturelle Komponente und hat auch unter manchen Österreicher:innen zum Aufbrechen bisher öffentlich tabuisierter antisemitischer Ressentiments geführt.

Der Antisemitismus ist hier eines von mehreren problematischen Phänomenen der heutigen Zeit. Verstärkt haben sich die Herausforderungen an die Demokratie im Allgemeinen. Zwar gab es immer einen Teil der Gesellschaft, der für autoritäre Tendenzen empfänglich war – und sich etwa einen „starken Führer, der sich nicht um Parlament und Demokratie kümmern muss“ gewünscht hat – undenkbar war jedoch, dass Spitzenpolitiker die Institutionen der liberalen Demokratie oder die Menschenrechte angriffen oder in Zweifel zogen. Das hat sich in den letzten Jahren leider geändert, wie das Beispiel des ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, zeigt.

Diese Herausforderungen an die Demokratie können nicht mit einer einzelnen Maßnahme gelöst werden. Und die Demokratie kann auch nicht nur an einer Front verteidigt werden. Zweifellos kommt jedoch der Schule bzw. den Bildungseinrichtungen eine besondere gesellschaftliche Rolle zu, die über das Vermitteln von Wissen hinausgeht. In einem Staat, in dem eine Unterrichtspflicht besteht, und in welchem die meisten Menschen mehrere Jahre in Bildungseinrichtungen mit öffentlichem Recht verbringen, hat das dort Erlebte und Erlernte eine existenzielle Bedeutung für das Gemeinwesen. Und angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung zeigt sich die Bedeutung von politischer Bildung im Sinne einer Demokratie- und staatsbürgerlichen Bildung in besonderer Weise.

Welche Rolle die Schulen daher in der Verteidigung der Demokratie und in der staatsbürgerlichen Erziehung spielen können, soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Maßnahmen, die eine solche „Verteidigung der Demokratie“ in der Schule ermöglichen, können jedoch keine rein inhaltlich orientierten Schulungen sein, die Kenntnisse über Strukturen und Prozesse des Gemeinwesens vermitteln. Diese sind ein Teil der politischen Bildung, greifen für sich alleine jedoch zu kurz, weil sie die Schüler:innen selten emotional erreichen und auch nicht notwendigerweise die Identifikation mit dem Gemeinwesen erhöhen. Wenn die Schule zum „Leben in der Demokratie“ vorbereiten will, sind daher zwei Elemente zu bedenken:

  1. Maßnahmen und Methoden, die das explizite Theorie- und Handlungswissen über das Leben in einer Demokratie stärken
  2. Das Vermitteln und Einüben von Wertehaltungen, die die Identifikation mit Österreich als liberaler europäischer Demokratie stärken sollen

Die Aufgabe der Schule in einer liberalen Demokratie

Was ist die Aufgabe der Schule, neben der Vermittlung von Wissen und dem Erlernen von Fertigkeiten? In einer Umfrage im Auftrag der Zeitung „Der Standard“ gab eine große Mehrheit der Befragten an, dass sie es für sehr sinnvoll (45 %) oder sinnvoll (34 %) halten, dass die Schule den Kindern „mehr demokratische Werte und Toleranz“ vermittelt. Nur 5 % gaben an, das „gar nicht sinnvoll“ zu finden. Obwohl die Schule ein wesentlicher Ort der Wissensvermittlung ist und auch in der Wahrnehmung einer Mehrheit sein soll, geht ein großer Teil der Gesellschaft davon aus, dass das bei weitem nicht ihre einzige Aufgabe ist. Und das sieht auch der Gesetzgeber so.

In § 2 des Schulorganisationsgesetzes (SchOG) werden die Aufgaben der österreichischen Schule definiert, von denen es nicht wenige gibt. Während der erste Teil des ersten Absatzes noch eher abstrakt über die Erziehung zum „Wahren, Guten und Schönen“ sowie von der Entwicklung der Anlagen auf Basis von sittlichen und religiösen Werten spricht, spart der zweite nicht mit Aufträgen an die österreichischen Schüler:innen:

„Die jungen Menschen sollen zu gesunden und gesundheitsbewussten, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil, sozialem Verständnis und sportlich aktiver Lebensweise geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“

Wenn man davon absieht, dass die Frage der Wertevermittlung in diesem Absatz noch offengelassen wird, ist trotzdem festzustellen: Die Erziehung zur Mündigkeit, bzw. zum selbstständigen Denken soll gemäß SchOG in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft stattfinden. Die Aufgabe der Schule erschöpft sich demnach nicht nur im Vermitteln von Kompetenzen, die am Arbeitsmarkt nützlich sind. Sie erschöpft sich auch nicht – wie in autoritären Systemen – in der gesellschaftlichen Unterordnung unter eine politische Ideologie auf Kosten der eigenen Individualität. Gleichzeitig erlegen die genannten Prinzipien dem Individualismus durch das Bekenntnis zum Gemeinwesen Schranken auf. 

Tatsächlich geht es in der Bildung immer auch um Werte und nie nur um Kenntnisse allein. Diese sind jedoch abhängig vom jeweiligen politischen System und weiterer kultureller Rahmenbedingungen. Kein Schulsystem kommt somit ohne ein Plädoyer an Werte und eine Verpflichtung auf das Gemeinwesen aus. Zweifellos erfüllt die Schule in liberalen Demokratien jedoch eine andere Funktion als in Diktaturen, was sich auch in den vermittelten Werten äußert. In liberalen Demokratien spielen Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Toleranz eine wesentliche Rolle. Die persönliche Entfaltung und Autonomie jedes einzelnen Menschen setzt diese Werte voraus. Die Freiheit der Entfaltung gilt in der liberalen Demokratie für alle Staatsbürger:innen gleichermaßen – und nicht nur für eine ausgewählte Elite – welche darum umgekehrt Unterstützung bei der Entwicklung der eigenen Potenziale erwarten dürfen. Diese Werte sind der kleinste gemeinsame Nenner, auf den ein demokratisches Gemeinwesen angewiesen ist. Angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung und der vielgestaltigen Angriffe auf diese Werte durch Rechtsradikale, Dschihadisten, aber auch andere postmoderne anti-aufklärerische Ideologien stellen sich an die Schule ganz besondere Herausforderungen.

Dies nicht zuletzt, da das Vertrauen in die Institutionen – darunter das Parlament – schwindet. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Bei jungen Menschen ist einer der Gründe jedoch auch das Gefühl mangelnder Repräsentation. Das Meinungsforschungsinstitut SORA hat im Auftrag des Österreichischen Parlaments Daten zum Verhältnis von jungen Menschen – definiert als alle 16- bis 26-Jährigen mit Wohnsitz in Österreich – und Demokratie erhoben. Das Ergebnis ist ernüchternd. Während im Jahr 2018 noch 26 Prozent aller jungen Menschen angaben, sich im österreichischen Parlament sehr gut vertreten zu fühlen, waren es im Jahr 2023 nur mehr 6 Prozent! Auch der Prozentsatz jener, die sich „ziemlich“ vertreten fühlten, sank von 38 auf 29 Prozent. Damit fühlen sich 54 Prozent aller Jungen wenig oder gar nicht im Parlament vertreten.

Politische Bildung, Demokratiebildung, staatsbürgerschaftliche Erziehung?

Doch was bedeutet die Heranbildung zu „verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft“ in der liberalen österreichischen Demokratie eigentlich? Anders als in vielen anderen Ländern gibt es – mit Ausnahme der polytechnischen und Berufsschulen – in den meisten Schultypen keinen eigenen Unterrichtsgegenstand, der die politische Bildung zum alleinigen Inhalt hat. Diese ist vielmehr auf unterschiedlichen Ebenen verankert und ab der 6. Schulstufe in der Regel Teil des Geschichtsunterrichts (seit dem Schuljahr 2023/24 „Geschichte und politische Bildung“). Darüber hinaus gibt es für alle Schultypen das „Unterrichtsprinzip politische Bildung“.

Doch die politische Bildung ist nicht das einzige aufrechte Unterrichtsprinzip. Neben diesem gibt es derzeit neun weitere, die in den einzelnen Unterrichtsfächern berücksichtigt werden sollen. Das sind neben der Wirtschaftserziehung Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung, Leseerziehung, interkulturelle Bildung, Gesundheitsförderung, Medienbildung, reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung, Sexualpädagogik sowie Verkehrs- und Mobilitätserziehung. Ein Blumenstrauß an zusätzlichen Inhalten und Themen also.

Diesen Prinzipien ist gemein, dass sie fächerübergreifend angewandt werden sollen, weil sie – wie das Bildungsministerium schreibt – „nicht nur einzelnen Unterrichtsgegenständen zugeordnet werden können“. Sie sollen – hofft das Ministerium weiter – „Schülerinnen und Schülern, Wissen in größeren Zusammenhängen […] vermitteln“. Mit anderen Worten: It’s not a bug, it’s a feature, doch die tatsächliche Umsetzung des Prinzips im Klassenraum – besonders in jenen, wo Integrationsspannungen bestehen – wurde in den vergangenen Jahren immer wieder angezweifelt. Besonders angesichts der verstärkten interkulturellen Konflikte seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurden die Forderungen an eine vertiefte politische Bildung in Form einer demokratischen Erziehung deutlicher. Doch wie sollte eine solche ausgestaltet sein, und ist es mit einem Unterrichtsfach allein wirklich getan? In anderen Staaten gibt es hierzu nicht nur fortgeschrittene theoretische Debatten, sondern auch Erfahrungen aus der Praxis.

Citizenship Education

In mehreren Ländern gibt es Schulfächer zur Demokratiebildung, die oft auch die „staatsbürgerliche Erziehung“ zum Inhalt haben. Form und Inhalte der „citizenship education“ unterscheiden sich je nach Staat und sind von dessen Geschichte und Kultur abhängig. Im englischsprachigen Raum und in Israel sind derartige Fächer häufig und stehen teilweise im Zusammenhang mit der Geschichte der Staatsgründung – z.B. Israel – bzw. die Erlangung der Unabhängigkeit von einer anderen Macht – z.B. Irland.

In England ist „Citizenship Education” seit dem Jahr 2001 im nationalen Lehrplan verankert. Im sogenannten Crick Report aus dem Jahr 1998 wurden nicht nur die Handlungsfelder, die Umsetzung und die Evaluierung dieses neuen Fachs festgelegt, sondern auch die wesentlichen Inhalte definiert. „Citizenship Education“ sollte umfassen:

“an understanding of democratic practices and institutions both local and national, including the work of parliaments, parties, pressure groups and voluntary bodies, and the relationship of formal political activity to civil society in the context of the United Kingdom and Europe; and an awareness of world affairs and global issues. A basic understanding is required of how taxation and expenditure work together, and of the economic realities of adult life”.

Der Vorschlag beinhaltete also im Wesentlichen die politische Bildung, inklusive der Europäischen Union sowie globaler Entwicklungen, und ein Grundverständnis des Steuer- und Wirtschaftssystems. Wesentliches Ziel war es jedoch, zu einem aktiven Verständnis von Staatsbürgerschaft heranzubilden. Das Unterrichtsfach sollte die verschiedensten Formen politischer Beteiligung und politischer Rechte thematisieren und den Schüler:innen näherbringen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Referenzrahmen für eine demokratische Kultur des Europarats. Ausgehend von der Annahme, dass die demokratiepolitische Bildung ein wesentlicher Teil der europäischen Schulsysteme ist, entwickelte ein internationales Expert:innenteam ein Kompetenzmodell sowie Lernziele für den politischen Unterricht. Die 20 darin enthaltenen Kompetenzen leiten sich aus vier Feldern ab: Werten, Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen und kritisches Verstehen.

Grundannahme ist, dass eine Demokratie nicht alleine durch die Existenz ihrer Institutionen bestehen kann, sondern eine gelebte demokratische Kultur benötigt, um sie am Leben zu erhalten. Zu dieser Kultur zählen:

  • das Bekenntnis zum öffentlichen Diskurs
  • die Bereitschaft, eigene Meinungen zu äußern und die Meinungen der anderen anzuhören
  • die Überzeugung, dass Meinungsverschiedenheiten und Konflikte friedlich gelöst werden müssen
  • die Verpflichtung, sich Mehrheitsentscheidungen zu beugen
  • die Verpflichtung zum Schutz von Minderheiten und deren Rechten
  • die Anerkennung der Tatsache, dass Minderheitenrechte nicht durch das Mehrheitsprinzip ausgehebelt werden können
  • das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit

Die Schule kann nun jener Ort sein, an dem diese Grundpfeiler einer demokratischen Kultur vorgelebt und geübt werden können.

Maßnahmen

  • Unterrichtsfach „Leben in der Demokratie“

Wie die oben genannten Beispiele zeigen, ist ein Unterrichtsgegenstand, der sich der staatsbürgerlichen Bildung bzw. dem Leben in einer Demokratie widmet, alles andere als abwegig. In vielen demokratischen Staaten ist ein solches Fach ein verpflichtender Teil der nationalen Curricula. Dieses sollte – nach dem Vorbild des Referenzrahmens des Europarats sowie der englischen „citizenship education“ – jedenfalls das politische System Österreichs und der europäischen Union, seine Geschichte, seine politische Kultur, Beteiligungsmöglichkeiten, Steuersystem und das Ehrenamt beinhalten. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf die multiethnische und multikonfessionelle Geschichte Österreichs, die bis heute in der Anerkennung einiger Volksgruppen als Minderheiten mit besonderen schützenswerten Rechten nachwirkt.

Doch ähnlich dem Spruch Albert Einsteins, dass „Bildung [das ist], was übrigbleibt, wenn man all das, was man in der Schule gelernt hat, vergisst“ findet die Vermittlung von Werten, Haltungen und Fähigkeiten nicht nur im unmittelbaren Unterricht statt, sondern auch durch die Schulgemeinschaft und die Werte der Personen, denen man dort begegnet. Ein Unterrichtsfach allein ist daher keine ausreichende Maßnahme zur demokratischen Erziehung. Statt eines Unterrichtsprinzips „politische Bildung“ sollte dieses eher zum „Schulprinzip“ erhoben werden, um demokratische Mitbestimmung und Diskussion nicht im Unterricht zu vermitteln, sondern zu einem Teil der Schulgemeinschaft zu machen.

  • Demokratisierung der Schulen

Das Erlernen demokratischer Kulturen und Praktiken passiert nicht nur im Rahmen von Tätigkeiten, die bewusst politische Themen zum Inhalt haben. Tatsächlich spielt – neben dem großen staatlichen Rahmen – das unmittelbare persönliche Umfeld eine wesentliche Rolle beim Erlernen von politisch-weltanschaulichen Haltungen. Schule besteht nicht nur aus Lehrplänen und Curricula, sondern aus von den Schüler:innen als akzeptiert erlebten Werten und den Personen, die sie vorleben. Demokratiebildung endet daher nicht in den Klassenzimmern, sondern umfasst auch die Binnenorganisation sowie das emotionale Klima der einzelnen Schulen selbst. Auch wenn diese schulautonom gestaltet werden müssen, ist eine Stärkung der Schüler:innenvertretung und deren stärkeres Einbeziehen in die Gestaltung der Schule als Lern- und Lebensort sinnvoll, um das Handlungsfeld der Schüler:innen und deren Identifikation mit der Schule zu stärken. Das Wählen von Schüler:innenvertreter:innen und deren Handeln wird somit als das erlebbar, was es ist, nämlich ein Mitgestalten des eigenen Lebensumfelds. In Finnland ist es beispielsweise für Schülervertreter:innen möglich, an den Vorstellungsgesprächen der zukünftigen Lehrer:innen teilzunehmen, Fragen zu stellen und über deren Einstellung mitzuentscheiden. Das erhöht nicht nur das Gestaltungspotenzial der Schüler:innen hinsichtlich ihrer eigenen Schule, sondern auch das Verantwortungsbewusstsein für diese.

  • Schulgemeinschaften stärken

Es ist paradox, aber oft ist die absichtsvolle Verfolgung eines Ziels dessen größtes Hindernis. Sich vorzunehmen, „Spaß zu haben“, führt mit Sicherheit dazu, dass man ihn nicht hat. Spaß ist ein Nebeneffekt einer – oft gemeinsamen – spielerischen Beschäftigung. So ähnlich verhält es sich auch mit Gemeinschafts- und Identifikationsgefühlen. Man kann Rahmenbedingungen, Formen und Handlungen definieren, die diese stärken können, man kann „Gemeinschaft“ aber nicht einfach verordnen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem demokratischen Bewusstsein. Der amerikanische Philosoph Robert Talisse argumentiert beispielsweise, dass Versuche, das Demokratiebewusstsein durch stärkere „Politisierung“ zu stärken, aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt sind. Viel eher geht es um die Frage, wie die Vorbedingungen eines gedeihlichen Miteinanders gestärkt werden können, wozu auch die Möglichkeit gehört, nach eigener Façon glücklich zu werden, sowie ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Privatschulen versuchen Gemeinschaftsgefühle durch gemeinsame Rituale zu stärken, etwa durch Traditionen zu Schulbeginn und Schulschluss, sowie an wichtigen Übergangsphasen. Konkret: das Erreichen der Hochschulreife. Dieses gemeinsame Pflegen von Formen kann zur Identitätskonstruktion beitragen und setzt sich vielfach auch in der Existenz von (mehr oder weniger aktiven) Absolvent:innenvereinen fort, die auf eine Zugehörigkeit verweisen, die die tatsächliche Schulkarriere überdauert. An öffentlichen Schulen sind diese Traditionen wenig ausgeprägt. Eine umfassende Schulautonomie würde den einzelnen Schulen größere Handlungsmöglichkeiten in der Gestaltung der eigenen Schulgemeinschaft eröffnen und dadurch die Identifikation mit der eigenen Schule stärken.

Schulische Diversität bewusst gestalten

Österreich war nie nur deutschsprachig und nie nur katholisch. Der Wahlspruch aus Kaisers Zeiten „Viribus unitis“, also „Mit vereinten Kräften“, verweist auf das theoretisch vorhandene Potenzial, das in dieser Vielfalt schlummert. Dieses muss jedoch durch Förderung, Forderung und entsprechendes Management bewusst gestaltet werden. Ohne intensive sprachliche Förderung ab dem Kindergarten wird es für Kinder mit Migrationsbiografie sehr schwierig, ihre Potenziale tatsächlich zu entfalten. Auf dieser muss daher in elementaren und primären Bildungseinrichtungen ein besonderer Schwerpunkt liegen. Gleichzeitig muss – ggf. durch Verlegung von Schüler:innen – sichergestellt werden, dass die Mehrheit eines Klassenverbands Deutsch auf Erstsprachenniveau beherrscht, um Schüler:innen mit sprachlichem Entwicklungsbedarf das Lernen durch Immersion zu ermöglichen.

Durch einen Chancenbonus für Brennpunktschulen sollen diese besonders gefördert werden, um allen Herausforderungen begegnen zu können und das inhaltliche Niveau sukzessive zu erhöhen. Gleichzeitig stehen begabte Schüler:innen aus schwierigen sozialen Verhältnissen gelegentlich vor dem Problem, dass ihr Umfeld sie – auch unabsichtlich – am Entfalten ihrer Potenziale hindern kann. Durch ein bundesweites Stipendienprogramm für begabte Kinder aus Brennpunktschulen soll diesen der Besuch an Privatschulen inklusive eines persönlichen Mentorings ermöglicht werden.

Alle Bildungseinrichtungen können sich verändern, zum Besseren genauso wie zum Schlechteren. Während es jedoch für Schulen mit dem QMS bereits ein Qualitätsmanagementsystem gibt, gibt es ein vergleichbares österreichweites System für Elementarbildungseinrichtungen nicht. Doch auch diese leisten nicht immer das, was sie leisten sollten. So wurden im Jahr 2023 in Wien mehrere private Kindergärten und Kindergruppen geschlossen. Eine unabhängige Einrichtung, die Qualitätsstandards definiert und deren Einhaltung in elementarpädagogischen Einrichtungen evaluiert, ist daher notwendig. Einer solchen Einrichtung obliegt dann auch die Prüfung, ob das, was dort gelehrt und vorgelebt wird, mit den Werten einer liberalen Demokratie vereinbar ist.

Eltern stärker einbeziehen

Auch wenn es in den öffentlichen Debatten oft untergeht: Haupt- und Letztverantwortliche für die Erziehung von Minderjährigen sind die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten. Die Eltern sind für die meisten Kinder das als Norm erlebte Lebens- und Wertemodell. Deren Einstellung gegenüber der Schule und deren Ansichten über den Wert von Bildung üben einen wesentlichen Einfluss auf ihre Kinder aus. Ein konflikthaftes Verhältnis zwischen Schule und Eltern – egal ob auf persönlicher oder inhaltlicher Ebene bzw. hinsichtlich der vermittelten Werte – wirkt sich daher negativ auf den Bildungserfolg der Kinder aus. Ziel der Schulleitungen muss es daher sein, die Eltern als Bildungspartner in den Bildungsprozess einzubeziehen und eine Beziehung zwischen Lehrer:innen und Eltern aufzubauen. Das wirkt sich nachweislich positiv auf den Lernerfolg der Kinder aus – und das in kognitiven und emotionalen Bereichen – wobei sozial benachteiligte Kinder in besonderem Maße davon profitieren. Beispiele für den Erfolg dieser Praxis – wie die Londoner King Solomon Academy – sollten für „Brennpunktschulen“ vermehrt als Best Practices zum Vorbild genommen werden.

Time-out-Klassen einführen

Prävention ist zweifellos besser als eine Intervention, um Schlimmeres zu verhindern. Trotzdem wäre es vermessen anzunehmen, dass der Auseinandersetzung mit radikalisierten Schüler:innen ein und für allemal und auf ewig vorgebeugt werden könnte. Zu diesem Zweck braucht es auch Instrumente der Deeskalation, die Mitschüler:innen und Lehrer:innen schützen und einen geeigneten Umgang mit potenziellen Gefährder:innen ermöglicht. Eine solche Möglichkeit sind Time-out-Klassen.

Bei diesen handelt es sich um eigene Klassen, in denen – begleitet von Therapeut:innen und Sozialarbeiter:innen – mit radikalisierten oder verhaltensauffälligen Schüler:innen gearbeitet werden soll. Ziel ist nicht nur der Schutz anderer Schüler:innen, sondern eine Entschärfung der Situation. Time-out-Klassen sind Suspendierungen deswegen vorzuziehen, da Letztere ja zu einer Entfernung aus dem schulischen Umfeld führen, wodurch eher eine Verschärfung radikaler Einstellungen bei den Betroffenen zu erwarten ist. Ein Deradikalisierungsprozess erfordert aber ein Verständnis der (unbewussten) Motivationen der Betroffenen.

(Bild: Nutthaseth Vanchaichana/iStock)

Literatur

Charles Taylor, Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie? (Frankfurt am Main 2019).

Conrad Seidl, Standard-Umfrage: Mehrheit für Noten und Matura. In: Der Standard Online, online unter: https://www.derstandard.at/story/3000000197546/standard-umfrage-mehrheit-fuer-noten-und-matura (Abgerufen am 18.12.23).

Silvia Matusovà, Democratic Values as a Challenge for Education. In: European Education 29(3), 65-76, hier: 65.

Homepage des Bildungsministeriums, online unter: https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulpraxis/prinz.html (Abgerufen am 18.12.23).

Philipp Mittnik, Über das Versagen der politischen Bildung. In: Der Standard Online, online unter: https://www.derstandard.at/story/2000057807469/ueber-das-versagen-der-politischen-bildung (Abgerufen am 18.12.23).

Advisory Group on Citizenship, Education for citizenship and the teaching of democracy in schools (London 1998) 22.

Europarat, Referenzrahmen: Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Band 1 (Straßburg 2023) 40.

Europarat, Referenzrahmen: Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Band 1 (Straßburg 2023) 25-26.

Siehe z.B. Orit Ichilov, Gavriel Salomon, Dan Inbar, Citizenship Education in Israel – A Jewish-Democratic State. In: Israel Affairs 11(2) 303-323.

Siehe Clemens Ableidinger, Was wir von Finnland und Estland lernen können. In: NEOS Lab Blog (4.4.23), online unter: https://lab.neos.eu/blog/was-wir-von-finnland-und-estland-lernen-koennen (Abgerufen am 19.12.23).

Robert B. Talisse, Overdoing Democracy. Why We Must Put Politics in its Place (Oxford 2019).

Das gilt für die Elementarbildung in besonderem Maße, siehe OECD, Improving Early Equity. From Evidence to Action (Paris 2022) 19-20.

Leonard Laurig, Von der Londonder Problem- zur Eliteschule – und Vorbild für Österreich? In: Der Standard Online, online unter: https://www.derstandard.at/story/3000000190078/von-der-londoner-problem-zur-eliteschule-und-vorbild-fuer-oesterreich (Aberufen am 18.12.23).

Shuki J. Cohen, The unconscious in terror: An overview of psychoanalytic contributions to the psychology of terrorism and violent radicalization. In: International Journal of Applied Psychoanalytic Studies 16(4) 216-228.

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