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Was wir von Finnland und Estland lernen können

POLICY NOTE zum Bildungssystem: Von Schulautonomie bis zu evidenzbasierter Bildungspolitik. Eine Reise nach Finnland und Estland zeigte Perspektiven auf, wie Schulen in Österreich zu einem besseren Ort werden können.

Foto von Jess Bailey auf Unsplash.

Im österreichischen Schulsystem gibt es mehrere Baustellen. Einerseits wird diesem mangelnde soziale Durchlässigkeit vorgeworfen. Andererseits schneiden österreichische Schüler:innen trotz der (theoretisch) nach Leistung strukturierten Schultypen bei internationalen Vergleichsstudien konsequent mittelmäßig ab. Österreich scheint sich damit in eine bildungspolitische Situation manövriert zu haben, die das Schlechteste aus mehreren Welten vereint: eine Kombination aus hohen Kosten, durchschnittlicher Leistung und mittelmäßiger sozialer Durchlässigkeit.

Unterdessen gibt es in der EU zwei Schulsysteme, deren höchst positives Abschneiden bei den PISA-Studien für Aufsehen gesorgt hat: Estland und Finnland. Nicht nur, dass beide Länder die EU-weit besten Ergebnisse erreichten, nahmen sie auch unter den OECD-Ländern absolute Spitzenwerte ein, unmittelbar hinter ostasiatischen Ländern wie Singapur und Hongkong.

Dass beide Schulsysteme zu besseren Leistungen zu führen scheinen, hat jedoch nicht nur finanzielle Gründe. Zwar geben beide, gemessen am BIP pro Kopf, mehr für das Bildungssystem aus, die finanziellen Aufwendungen pro Schüler:in sind jedoch in Österreich deutlich höher als Finnland und Estland. Das suggeriert ein hohes Maß an Ineffizienz im Schulsystem. Das Geld, das der österreichische Staat in das Bildungssystem steckt, kommt nicht vollständig bei den Schüler:innen an.

Doch die Schule besteht nicht nur aus Strukturen und Zahlen, sondern vor allem aus den Menschen, die sich innerhalb des Systems bewegen. Auch hier gibt es in Österreich Luft nach oben. Nur 16,1 Prozent aller Lehrer:innen hierzulande sind der Ansicht, dass ihr Berufsstand in der Gesellschaft ein hohes Ansehen genießt. In Finnland halten 58,2 Prozent ihren Beruf für hoch angesehen, und auch in Estland sind es mit 26,4 Prozent mehr als im OECD-Durchschnitt.

Was machen die estnische und finnische Bildungspolitik also anders als die österreichische? Um dieser Frage nachzugehen, haben wir uns auf eine Fact-Finding-Mission in beide Länder begeben und dabei im Austausch mit Schulleiter:innen, Bildungspolitiker:innen und Ed-Tech-Unternehmen bestehende und laufende Maßnahmen identifiziert, mit denen auch Österreich aus dem teuren Mittelmaß geholt werden könnte.

8 Punkte, die wir von Estland und Finnland lernen können

1. Schulautonomie

Österreichs Schulsystem ist hochgradig bürokratisiert. Einerseits verteilen sich die Zuständigkeit für die verschiedenen Schultypen auf verschiedene Verwaltungseinheiten. Denn während der Bund für die höheren Schulen zuständig ist, liegt die Hauptverantwortung für die Pflichtschulen und Kindergärten bei den Bundesländern. Zudem können bei den Kindergärten auch die Gemeinden für Infrastruktur und Personal zuständig sein. Andererseits sind die Lehrpläne aller Schultypen Bundesmaterie. Und noch jeder Versuch, den Verwaltungsdschungel zu bändigen, hat sich als unzureichend erwiesen. Die Schaffung der Bildungsdirektionen in den Ländern, die eigentlich zur Reduktion des Verwaltungswirrwarrs hätte führen sollen, hat die Probleme nicht beseitigt, wie der Rechnungshof 2023 kritisch anmerkte.

Diese Struktur ist ein Erbe des österreichischen Föderalismus, den Finnland und Estland in dieser Form nicht kennen. In Finnland definiert das Bildungsministerium in groben Zügen nationale Lehrpläne und Schwerpunktsetzungen sowie die Höhe jenes Betrags, den jede Schule pro Schüler:in bekommt. Tiefergehende – vor allem pädagogische und didaktische Fragen – liegen jedoch ausschließlich auf der Ebene der Schulen.

Aus dieser Budgetautonomie leiten sich weitere Freiheiten für die Schule ab. So entscheidet die Schulleitung etwa in Estland nicht nur über die Länge der Unterrichtsstunden und die Klassengröße, sondern auch über die Durchführung von Exkursionen, Schulveranstaltungen und die Kooperation mit EduTech-Unternehmen. Darüber hinaus liegt auch die Personalhoheit direkt in den Schulen. In der Lagstads skola in Espoo (Finnland) werden beispielsweise Schüler:innen in den Bewerbungsprozess der Lehrer:innen eingebunden. Sie sind Teil der Hearing-Kommission und können – nach Vorbereitung durch die Schulleiterin – selbstverständlich auch Fragen an die Bewerber:innen stellen.

Schulautonomie respektiert auf diese Weise nicht nur die Professionalität der Pädagog:innen, sondern sie ermöglicht auch die Berücksichtigung lokaler Besonderheiten – etwa durch Kooperationen mit lokalen Freizeitanbietern o.Ä. Sie führt dadurch auch zu einer Stärkung der Schulgemeinschaft, denn die Pädagog:innen erleben sich als verantwortlich für alles, was in ihrer Schule passiert, inklusive der Leistungen der Schüler:innen. Darüber hinaus verzichtet man in beiden Ländern auf einen bürokratischen Wasserkopf, oder, wie uns seitens „Education Estonia“, des estnischen Bildungsministeriums, mitgeteilt wurde: „Wir haben nicht genügend Ressourcen für Überregulierung.“

Schulautonomie kann sich darüber hinaus – sofern die Schulleiter:innen ein hohes Maß an Management Skills aufweisen – positiv auf die Leistungen der Schüler:innen auswirken. So zeigen Zahlen der OECD, dass eine Korrelation zwischen der Verantwortlichkeit von Schulleiter:innen (Ressourcen, Curriculum, Beurteilung, etc.) und guten Leistungen in den MINT-Fächern besteht, siehe Grafik unten. (Quelle der Grafik: OECD, Value for Money in School Education: Smart Investments, Quality Outcomes, Equal Opportunities (2022))

2. Qualitätsvolle Lehrer:innenausbildung

Was sich an der österreichischen Lehrer:innenausbildung ändern muss, hat das NEOS Lab bereits mit seinem Policy Brief „Die besten Lehrer:innen für die beste Bildung“ (2022) gezeigt. Vieles davon ist in Finnland bereits Realität. Das beginnt bei der Erkenntnis, dass die Lehrer:innen der relevanteste Faktor für den Erfolg der Schüler:innen sind. Lehrer:innen gelten daher – in allen nordischen Staaten – als wichtig, einflussreich und aufgrund ihrer Professionalität als verantwortlich für das Unterrichtsgeschehen, die Noten ihrer Schützlinge inklusive. Das Ergebnis ist u.a., dass 58,2 Prozent aller Lehrer:innen ihren Beruf für gesellschaftlich hoch angesehen halten, während nur 16,1 Prozent ihrer österreichischen Kolleg:innen dieser Meinung sind.

Diese Wertschätzung für die Professionalität des Lehrer:innenberufs ist auch das Resultat einer qualitativ hochwertigen Ausbildung. Für die meisten pädagogischen Tätigkeiten ist ein universitärer MA-Abschluss verpflichtend. Der Zugang zur Ausbildung ist jedoch durch eine intensive Aufnahmeprüfung stark reglementiert. Nur 10 Prozent aller Bewerber:innen werden in Finnland tatsächlich zum Studium zugelassen. Die eigentliche erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung findet in beiden Ländern im MA-Studium statt. Dieses beinhaltet ab dem dritten Studienjahr jedoch intensive Praxiszeiten. Im Rahmen des fachdidaktischen Praktikums müssen die angehenden Lehrer:innen innerhalb von sieben Wochen 50 Unterrichtsstunden gemeinsam mit einem:einer Kolleg:in halten. Im vertiefenden Praktikum müssen sie fünf Wochen lang je 20 Stunden in der Woche alleine unterrichten. In beiden Phasen werden sie in Finnland von Mentor:innen begleitet, die sie bei der Planung und Nachbetrachtung des Unterrichts unterstützen.

Darüber hinaus erhalten finnische Lehrer:innen ein Gehalt, das deutlich über dem finnischen Durchschnittsgehalt liegt. Innerhalb der Schulen ergeben sich durch die Leitung von Fachgruppen zudem Möglichkeiten, mehr Verantwortung zu übernehmen.

3. Unterstützungsmaßnahmen und -personal in Schulen

Die Lagstads skola im finnischen Espoo umfasst die Schulstufen 1 bis 9 für 550 Schüler:innen in insgesamt 29 Klassen. Neben 43 Lehrer:innen umfasst das Personal sieben Sonderpädagog:innen, eine:n Bildungsberater:in, 14 persönliche Assistent:innen, eine:n Schulpsycholog:in, einen Welfare Officer und eine School Nurse. Dieser Personalstand ist für Finnland nichts Ungewöhnliches. Soziales, medizinisches und psychologisches Stützpersonal ermöglicht den Lehrer:innen schlicht, sich auf das zu konzentrieren, wofür sie die Profis sind: das Unterrichten der Fächer und das Heben der „Flügel“ der Kinder. In Estland wird diese Personalstruktur ergänzt mit einem:r Education Technologist, der:die didaktische Potenziale der Digitalisierung identifiziert und für die Kolleg:innen als Ansprechperson und Unterstützung bei der pädagogischen Verwertung von digitalen Tools fungiert.

Von diesem Unterstützungspersonal profitieren nicht nur die Lehrer:innen, sondern vor allem die Schüler:innen. Egal, ob es sich um körperliche oder seelische Krisen handelt: Jede Schule verfügt über ausgebildete Fachkräfte und lastet die Interventionen nicht den Lehrer:innen auf. Darüber hinaus sind diese zusätzlichen Fachkräfte selbstverständlich an jedem Wochentag in der Schule, und nicht nur zweimal die Woche.

In Estland werden regelmäßig Zahlen zu Bullying- oder Mobbing-Erfahrungen unter Schüler:innen erhoben. Dieses Monitoring ermöglicht das rasche Setzen von Maßnahmen am Schulstandort. Viele finnische und estnische Schulen wirken jedoch bereits am von der Universität Turku in Kooperation mit dem finnischen Bildungsministerium entwickelten Anti-Bullying-Programm KiVa mit. Mitwirkende des KiVa-Programms lernen nicht nur Bullying und Mobbing zu identifizieren, sondern auch konkrete Interventionstechniken, die bei der Konfliktbewältigung helfen sollen.

4. Erziehung zur Selbstständigkeit

In Finnland und Estland sind Schüler:innen gestaltender Teil der Schulgemeinschaft. Wie diese Mitgestaltung gelebt wird, ist – aufgrund der Schulautonomie – von Schule zu Schule unterschiedlich. Diese Mitwirkung reicht von der Mitgestaltung der Schulgebäude bis hin zu der bereits erwähnten Einbeziehung in den Bewerbungsprozess der Lehrer:innen.

Die estnische Avatud Kool in Tallinn legt einen besonders hohen Stellenwert auf die „Erziehung zur Mündigkeit“ (nach Adorno). Schon ab der ersten Schulstufe werden die Schüler:innen an selbstständiges Lernen herangeführt. Zu diesem Zweck wurden „Independent Learning Days“ eingeführt, an denen die Schüler:innen selbstständig und ohne Anleitung an Lernaufgaben arbeiten. Tempo, Reihenfolge und Pausen können sie selbst gestalten. In den Schulstufen 1–3 finden solche Selbstlerntage einmal im Monat im Schulgebäude statt. Ab der vierten Schulstufte gibt es sie einmal wöchentlich, wobei den Schüler:innen freigestellt ist, ob sie an diesem Tag in die Schule kommen wollen oder von zu Hause aus arbeiten möchten. Nach einem morgendlichen Online-Check-in-Meeting stehen die Lehrer:innen von 12 bis 14 Uhr für Fragen (online) zur Verfügung. Davon abgesehen sind die Schüler:innen völlig sich selbst überlassen. Für uns in Österreich vielleicht überraschend: Es funktioniert.

5. Digitalisierung und Innovation

Die „Independent Learning Days“ funktionieren deswegen, weil sie digitale Tools sinnvoll in den Lernprozess integrieren. Der Morgen-Check-in findet online statt. Die Lehrer:innen stehen über einen Video-Call zur Verfügung. Das setzt eine relativ gut entwickelte digitale Infrastruktur voraus und digitale Skills bei Schüler:innen und Lehrer:innen. Um diese ist es in Österreich jedoch schlecht bestellt. So liegt das Vertrauen, das österreichische Lehrer:innen in ihre digitalen Kompetenzen haben, in den meisten Kompetenzbereichen unter dem EU-Durchschnitt. 

In Estland ist die Digitalisierung der Bildung besonders weit vorangeschritten. Seit 2001 sind alle Schulen an das Internet angeschlossen. Alle Schulen verwenden digitale Lernmanagement-Systeme. Mit EdTech Estonia existiert ein zentraler Hub für Bildungstechnologien. Viele von den durch EdTech-Estonia vertretenen Anbietern werden tatsächlich auch in Schulen verwendet. So sind beispielsweise fast alle Schulbücher digitalisiert und über eine App für Schüler:innen und Lehrer:innen abruf- und bearbeitbar. Manche Schulen gestatten die Anrechnung von schüler:innengerechten Onlinekursen als schulisches Freifach. Seit 2004 existiert zudem mit dem estnischen Bildungsinformationssystem eine zentrale, laufend durch Eingaben der Schulleiter:innen aktualisierte Schuldatenbank, die im Laufe der Jahre sukzessive erweitert wurde. Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach den Auswirkungen von ChatGPT für den schulischen Unterricht. Nach einer Konsultation mit KI-Expert:innen kam Education Estonia, das für die Entwicklung der Lehrpläne verantwortlich zeichnet, zu dem Schluss: Künstliche Intelligenz stellt keine Gefahr für die Schule dar, sondern muss schlicht sinnvoll in den Schulbetrieb integriert werden.

6. Hohe Wertschätzung von Bildung, Schule und Lehrer:innen

Der ehemalige estnische Präsident Toomas Henrik Ilves brachte die estnische Bildungsaffinität auf folgende Formulierung: „Die estnische Bevölkerung glaubt an Bildung. Wir sind der festen Überzeugung, dass das Beste, das Eltern ihren Kindern geben können, eine gute Bildung ist.“ Kurz: Bildung und Schule haben in Estland – aber auch in Finnland – einen sehr hohen Stellenwert.

Diese Wertschätzung von Bildung und Schule ist nicht nur der Grund für die im Vergleich deutlich höhere Wertschätzung des Lehrer:innenberufs. Die Haltung, die innerhalb einer Gesellschaft oder auch innerhalb einer soziokulturellen Gruppe gegenüber der Bildung eingenommen wird, ist ein höchst einflussreicher Faktor für den Bildungsaufstieg.

Dieser Respekt für Bildung und Schule äußert sich auch in den öffentlichen Ausgaben für das Bildungssystem und im Vertrauen, das man diesem entgegenbringt. Der Anteil des Budgets, das für das Bildungssystem ausgegeben wird, liegt in Estland über dem OECD- und EU-Durchschnitt. Dasselbe gilt auch für Vorschulen und die Primarstufe.

7. Chancengerechtigkeit

Sowohl in Estland als auch in Finnland werden Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit großgeschrieben. In der finnischen Verfassung ist beispielsweise verankert, dass jede:r das Recht auf kostenfreie Bildung innehat und dass die öffentliche Hand für alle – und unabhängig von ihrer sozialen oder ökonomischen Herkunft – Bildungschancen zur Verfügung stellen soll, die zu ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen passen. Dieses verfassungsmäßige Recht auf Bildung gleicht der Dahrendorf’schen Konzeption von Bildung als „Bürgerrecht“. Ziel ist die Entfaltung der Potenziale jedes einzelnen Kindes, das nicht als Vertreter:in einer sozialen oder ethnischen Gruppe, sondern als einzigartige Person betrachtet werden soll.

Auch im estnischen Schulsystem spielt daher Chancengerechtigkeit eine große Rolle. Pädagogisch äußert sie sich auch in der kaum vorhandenen Möglichkeit, Klassen oder Kurse zu wiederholen. In Fällen, wo Schüler:innen durchzufallen drohen, ist es die Pflicht des:der Lehrer:in, dafür Sorge zu tragen, dass das Kind die Leistungsziele doch noch erreicht. Das kann auch unbezahlte Nachhilfe durch den:die Lehrer:in selbst beinhalten, der:die für den Lernerfolg als verantwortlich gilt. Das bedeutet auch, dass jedes Kind unabhängig von der sozioökonomischen Herkunft das Recht auf ein warmes Mittagessen hat. Darüber hinaus finden Schulveranstaltungen und Exkursionen nur dann statt, wenn die Budgetmittel die Teilnahme aller Schüler:innen ermöglichen.

Das bedeutet freilich nicht, dass in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten keine Veränderung stattgefunden hätte und das Schulsystem keinen akademischen Aufstieg zuließe. Denn tatsächlich stieg die Akademiker:innenquote zwischen 2010 und 2020 von 14,1 auf 19,2 Prozent.

Darüber hinaus können sozioökonomischer Aufstieg und Akademisierung zwar miteinander in Verbindung stehen, müssen das jedoch nicht unbedingt. Laut dem Social-Mobility-Index des Weltwirtschaftsforums liegt Österreich bei der sozialen Mobilität (Stand 2020) auf Platz 8 von 82 analysierten Staaten und damit nur wenige Plätze hinter Finnland (Platz 3).

8. Strategische und evidenzbasierte Bildungspolitik

Basis für alle bildungspolitischen Entscheidungen ist in Estland die nationale Bildungsstrategie 2021–2035. Diese Strategie fußt auf drei Prinzipien:

  1. Das Lernangebot soll divers und zugänglich sein, und die unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems sollen unabhängig vom gelernten Lernpfad erreicht werden können.
  2. Lehrer:innen und Schulleiter:innen sollen kompetent und motiviert sein und auf Basis eines schüler:innenzentrierten Zugangs ein vielfältiges Lernumfeld schaffen.
  3. Das Lernangebot soll auf gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen reagieren.

Für diese drei strategischen Ziele wurden Indikatoren definiert, die jährlich erhoben werden. Dadurch soll die Evaluierung bildungspolitischer Maßnahmen ermöglicht werden.

Daten existieren in Estland aber nicht nur für politische Entscheidungsträger:innen. Mit Haridussilm.ee gibt es ein offizielles Portal für Bildungsstatistiken, das von allen Menschen abgerufen werden kann. Auf dieser Plattform finden sich nicht nur Informationen zu jeder einzelnen Schule, ihrer Größe, ihrer Schüler:innen- und Lehrer:innenanzahl sowie dem Geschlechterverhältnis, der Zusammensetzung nach Herkunft und dem Notendurchschnitt der Abschlussprüfungen, sondern auch Informationen darüber, wie viele Schüler:innen der betreffenden Schule in den letzten Monaten angegeben haben, Mobbing-Erfahrungen gemacht zu haben. Diese Infos ermöglichen daraufhin das schnelle Reagieren durch die Einführung von Anti-Mobbing-Maßnahmen.

Was in diesem Kontext überraschen mag: Die PISA-Studie spielt bei bildungspolitischen Entscheidungen eine marginale Rolle. Zwar werden deren Ergebnisse zur Kenntnis genommen, Policies werden jedoch ausschließlich aus den nationalen Bildungsstrategien abgeleitet, deren Ziel nicht das möglichst gute Abschneiden bei den PISA-Studien ist. Grund dafür ist die berechtigte Annahme, dass andere, nicht erhobene Parameter zu wenig Beachtung finden, wie z.B. Lernerfahrungen oder das Wohlbefinden der Schüler:innen.

 

Zusammenfassung

Die estnischen Bildungsexpert:innen Peeter Mehisto und Maie Kitsing weisen darauf hin, dass aufgrund des kulturellen Rahmens und der unterschiedlichen Bildungstraditionen, bildungspolitische Maßnahmen in verschiedenen Ländern unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen können. Einzelmaßnahmen können daher nicht notwendigerweise einfach imitiert werden, sondern müssen für andere politische Systeme übersetzt werden.

In dieser Policy Note wurden daher acht Punkte definiert, die den nordischen Bildungserfolg stark mitbeeinflussen und daher von politischen Entscheidungsträger:innen, die auf die Weiterentwicklung des österreichischen Schulsystems Wert legen, bedacht werden sollten:

  1. Schulautonomie
  2. Qualitätsvolle Lehrer:innenausbildung
  3. Unterstützungsmaßnahmen und -personal in den Schulen
  4. Erziehung zur Selbstständigkeit
  5. Digitalisierung & Innovation
  6. Hohe Wertschätzung von Bildung, Schule und Lehrer:innen
  7. Chancengerechtigkeit
  8. Strategische und evidenzbasierte Bildungspolitik

Literaturverzeichnis

Theodor Adorno, Erziehung zur Mündigkeit (Frankfurt am Main 2006).

Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik (1965).

Amy Hsin, Yu Xie, Explaining Asian Americans’ academic advantage over whites. In: PNAS Vol.111/23 (2014).

Peeter Mehisto, Maie Kitsing, Lessons from Estonia’s Education Success Story. Exploring Equity and High Performance through PISA (Abingdon 2023).

OECD, Value for Money in School Education: Smart Investments, Quality Outcomes, Equal Opportunities (2022).

Parliament of Finland, The Constitution of Finland and Parliament’s Rules of Procedure (2013).

Rechnungshof, Bildungsdirektionen. Bericht des Rechnungshofes (Reihe Bund 2023/3).

Statistik Austria, Bildungsstand der Bevölkerung, online unter: https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bildung/bildungsstand-der-bevoelkerung.

WEF, Global Social Mobility Index 2020, online unter: https://www.weforum.org/reports/global-social-mobility-index-2020-why-economies-benefit-from-fixing-inequality/.

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