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5 drängende Fragen für die künftige EU-Kommission

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Am 4. November 2024 werden in Brüssel die Hearings mit den nominierten EU-Kommissar:innen beginnen. Erwartet wird, dass die Kandidat:innen im EU-Parlament mit Fragen auf Herz und Nieren geprüft werden. Dabei ist klar, dass gewisse Fragen die fünf dringendsten sind. Eine Zusammenschau von Silvia Nadjivan und Lukas Sustala.

1. Nachhaltige Standortpolitik

Mit einem diesjährigen Wirtschaftswachstum von gerade einem Prozent ist die EU im globalen Wettbewerb weit hinter den USA und China abgeschlagen. Damit Europa wirtschaftlich nicht länger abgehängt und als Wirtschaftsstandort gestärkt wird, haben Enrico Letta im April und Mario Draghi im September umfangreiche Berichte für die EU-Kommission mit klaren Handlungsempfehlungen vorgelegt. Im Draghi-Report geht es vor allem um die Notwendigkeit einer industriepolitischen Strategie, von mehr Innovation, weniger CO2-Ausstoß und gleichzeitig erhöhter Sicherheit bei verringerter externer Abhängigkeit. Konkret empfiehlt Draghi Investitionen von bis zu 800 Milliarden Euro.

Die Frage ist nun: Wie bringt die EU-Kommission nun wirklich die Standortpolitik auf die Agenda für die nächsten fünf Jahre? Und wie wird sie das finanzieren, angesichts vieler hundert Milliarden Euro, die in den vergangenen fünf Jahren in verschiedenen „Töpfen“ für Krisenbewältigung bereitgestellt, aber oft nicht abgeholt wurden? Und wie löst die EU-Kommission, selbst Produzentin vieler Regeln und Verordnungen, ihr Versprechen von weniger Bürokratie für kleine und mittlere Betriebe ein? Wie muss die EU außerdem ihr Budget verändern, um Zukunftsinvestitionen zu priorisieren?

2. Umzusetzender EU-Asyl- und Migrationspakt

Nach jahrelangen zähen Verhandlungen im EU-Parlament und EU-Rat ist kurz von den diesjährigen Europawahlen endlich ein gemeinsamer EU-Asyl- und Migrationspakt auf abgesegnet worden. Noch bevor dieser wirklich in Kraft treten treten konnte, forderte zunächst die rechtspopulistische Regierung in den Niederlanden, dann die Orbán-Regierung und nun Italien Ausnahmeregelungen. Mittlerweile hat sich auch die liberaldemokratische Regierung in Polen – mit Blick auf die irreguläre Migration aus Belarus – dieser Forderung angeschlossen. Auf dem EU-Gipfel am 18. Oktober standen vor allem nationale Interessen im Vordergrund. Der EU-Rat fordert somit von der zukünftigen Kommission ein neues Gesetz mit Erleichterungen bei Abschiebungen.

Wie verhindert also die Kommission, dass der EU-Asyl- und Migrationspakt wieder am Ende ist, ehe er noch umgesetzt wurde? Denn klar ist: Eine sichere EU-Außengrenze ist ein gemeinsames europäisches Anliegen, neue Grenzen zwischen EU-Ländern wären ein kapitaler Rückschritt.

3. Notwendige Kehrtwende für die Ukraine

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine entwickelt sich zusehends zu einem Abnützungskrieg. Mit dem Eintritt nordkoreanischer Soldaten eskaliert Russland den Krieg noch weiter. Die EU- und NATO-Spitzen haben zwar dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach wie vor militärische und finanzielle Hilfen versprochen, jedoch kommen diese oft verspätet oder eingeschränkt an, was eine ukrainische Durchschlagskraft seit Kriegsbeginn unterminiert. Zugleich kehren Fake News und Desinformationskampagnen als Teil hybrider Kriegsführung Russlands gegen Europa die Täter-Opfer-Rolle völlig um. Diese Propaganda verbreiten auch antidemokratische, antieuropäische Parteien innerhalb der EU und verzögern auf EU-Ebene zusätzlich Hilfen an die Ukraine. Aus der scheinbar immer schwierigeren Situation muss man so schnell wie möglich herauskommen, wie es auch Selenskyj mit seinem 5-Punkte-Plan versucht.

Auf EU-Ebene bleibt somit die Frage: Wie kann die EU im russischen Aggressionskrieg der Ukraine helfen, die negative Dynamik zu brechen? Und welche Schritte wird die neue EU-Kommission setzen, um gemeinsame Investitionen in die gemeinsame EU-Verteidigung zu forcieren?

4. EU endlich als Global Player

Inzwischen ist der Ukraine-Krieg bei Weitem nicht der einzige, zu dem sich die EU in einem sich verändernden globalen Kontext positionieren muss. Und das möglichst mit einer Stimme, was aber nahezu aussichtslos mit Blick auf so unterschiedliche Länder wie Spanien oder Ungarn, Italien oder Schweden erscheint. Der brutale Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der dadurch neu entfachte Nahost-Konflikt ist eine enorme Herausforderung für die neue „Außenministerin“ der EU, Kaja Kallas. Die Positionen reichen hier von der unmittelbaren Solidarisierung mit Israel bis zum europaweit drastisch angestiegenen Antisemitismus. Da es in Zukunft erwartungsgemäß mehr Konflikte statt weniger geben wird, und USA und China zusehends auf einen Wettkampf um die globale Vormachtstellung zusteuern, droht Europa dazwischen aufgebrieben zu werden. Umso dringender erscheint eine gemeinsame außenpolitische Position der 27-EU-Mitgliedsländer, auch verkörpert durch die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.

Zu fragen ist daher: Wie kann die EU bei globalen Krisen mit einer Stimme sprechen, um als Power Player wahrgenommen zu werden? Wie kann die EU darüber hinaus mehr geopolitisches Gewicht bekommen, etwa in Afrika, wo China mit Milliardeninvestitionen zusehends seinen Einfluss ausweitet?

5. Höchster Reformbedarf

Die EU und ihre Mitgliedsländer sehen sich insgesamt zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Nicht umsonst ist von Polykrise bzw. Permakrise die Rede, also der Gleichzeitigkeit von Kriegen sowie Wirtschafts-, Energie- und Klimakrise. Ein Übriges tun auch große demografische Entwicklungen (Stichwort Fachkräftemangel) und technologischen Veränderungen (Stichwort KI), wofür es innovative Lösungsansätze braucht. Die bisherigen EU-Regelungen und -Strukturen bieten jedoch unzureichend Raum. Allein für die längst notwendige Einführung der Bildungsfreizügigkeit als fünfte Grundfreiheit fehlen derzeit noch Mittel und Wege.

Die Frage lautet schließlich: Wie viel Veränderung ist überhaupt möglich ohne grundlegende, institutionelle Reformen? Wie kann beispielsweise der europäische Bildungsraum weiterentwickelt werden – ohne neue Verträge, ein eigenes Budget und ohne neue Einnahmen?

Noch nie war die Europäische Kommission mit einer derartigen Quantität und Qualität der Herausforderungen konfrontiert. Umso wichtiger erscheinen jetzt die Verbindung von Akteur:in und Struktur, sprich die Übereinstimmung von Kompetenz und Aufgabe, wie auch der Mut zu grundlegenden Reformen in Richtung eines gemeinsamen starken Europas.

(Alexandros Michailidis/iStock)

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