Presse: Zinswende kostet EU-Länder 2023 schon 110 Mrd. Euro
79 Milliarden Euro mehr Schulden als erlaubt
Das Budget 2023 ist seit Donnerstag beschlossene Sache. Von Budgetkonsolidierung ist allerdings vorerst wenig zu sehen. Hätte Österreich in der Vergangenheit die Maastricht-Kriterien ernst genommen, wäre der Schuldenberg um 79 Milliarden Euro kleiner. EU-weit hat die Zinswende bereits zu Mehrkosten von 110 Milliarden Euro geführt. Von Günther Oswald
Foto: Goran Grudić via Pexels.
Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) hat am Montag in seiner Rede zum Budget 2023 einmal mehr die Wichtigkeit der Maastricht-Kriterien betont und auch bekräftigt, dass es einen "Blick auf die zukünftige Budgetkonsolidierung braucht, die wir natürlich nach den Krisen angehen müssen". Schließlich wisse auch jeder private Kreditnehmer: "Wenn die Zinsen steigen, bleibt weniger Geld im Haushalt über."
Dem Befund ist grundsätzlich nichts hinzuzufügen. Allerdings: In der mittelfristigen Budgetplanung bis 2026, die mit dem Strategiebericht des Finanzministeriums vorgelegt wird, ist von einer Budgetkonsolidierung noch nichts zu sehen. Auch in den Jahren 2024 bis 2026 wird noch mit signifikanten strukturellen Defiziten gerechnet (1,9 Prozent 2024, 1,6 Prozent 2026). Eigentlich sollte das strukturelle Defizit 0,45 Prozent nicht übersteigen.
Das Beispiel illustriert gut, dass sich Österreich zwar immer gerne als Teil der "frugalen Vier" inszeniert, also in Brüssel gemeinsam mit Schweden, Dänemark und der Niederlande auf sparsame Budgetpolitik drängt, de facto aber weit von der nachhaltigen Fiskalpolitik der anderen "frugalen" Länder entfernt ist.
Wie die gerade veröffentlichte Herbst-Prognose der EU-Kommission zeigt, ist Österreich derzeit eines von gleich 13 EU-Mitgliedern, die über der eigentlich gültigen Maastricht-Schuldenobergrenze von 60 Prozent des BIP liegen. Sechs davon haben mittlerweile sogar eine Schuldenquote von über 100 Prozent des BIP (Griechenland, Italien, Spanien, Frankreich, Portugal und Belgien).
Der Schuldenberg aller EU-Länder ist um 4,8 Billionen Euro zu groß
Zwar gehört Österreich nicht zu den allergrößten Budgetsündern, bei der Zielverfehlung geht es aber dennoch nicht um Peanuts. In konkreten Zahlen: Läge Österreichs Schuldenstand bei nur 60 Prozent des BIP, wäre der Schuldenberg im kommenden Jahr um 79 Milliarden Euro niedriger. Diese Summe entspricht in etwa dem gesamten Bildungsbudget für sieben Jahre.
Der Schuldenberg aller EU-Staaten sollte eigentlich um 4,8 Billionen Euro niedriger sein. Allein auf Italien entfallen 1,7 Billionen Euro, Frankreich hätte um 1,4 Billionen Euro weniger Schulden, wenn die Maastricht-Grenze eingehalten würde.
Noch deutlicher wird die Höhe des Schuldenberges, wenn man Österreich mit Schweden vergleicht, das nach schweren Schuldenkrisen in den 80er- und 90er Jahren auf eine nachhaltige Budgetpolitik umgestellt hat und trotzdem zeigt, dass man damit einen gut ausgestalteten Sozialstaat finanzieren kann.
Hätte Österreich Schwedens Schuldenquote (für 2023 sind 29,4 Prozent des BIP prognostiziert), läge der Schuldenstand um 226 Milliarden Euro niedriger. Das entspricht zwei gesamten Haushalten des Bundes.
Zinskosten um 109,6 Milliarden Euro gestiegen
Wie schnell die Schuldenberge bei steigenden Zinsen zu signifikanten Mehrbelastungen führen, sehen Brunner und seine Finanzminister-Kollegen seit die EZB heuer die Nullzinspolitik aufgeben musste. Vor einem Jahr wurden die Zinskosten der EU27 für das Haushaltsjahr 2023 noch mit 180 Milliarden Euro geschätzt. Die aktuelle Prognose geht nun von 289,9 Milliarden Euro aus. Binnen zwölf Monaten sind die Zinskosten also um 109,6 Milliarden Euro gestiegen (für die Eurozone um 91,9 Milliarden). Das sind Gelder, die angesichts der großen Investitionserfordernisse im Zuge der ökologischen Transformation wesentlich besser für andere Dinge als die Schuldenfinanzierung benötigt würden.
Dafür hätten aber die Fiskalregeln ernster genommen werden müssen. Nur die wenigsten Länder erfüllen aber regelmäßig beide Maastricht-Kriterien einer Schuldenquote von maximal 60 Prozent UND eines jährlichen Defizits von maximal drei Prozent des BIP. Österreich ist eines von nur vier Ländern (neben Griechenland, Italien und Belgien), das nie beide Kriterien erfüllte. Betont werden muss bei dieser Auswertung natürlich, dass nicht alle aktuell 27 EU-Staaten über den gesamten Zeitraum bereits Mitglieder waren.
Die "Budgetnachhaltigkeit", die Brunner in Brüssel einfordert, hat Österreich also in den vergangenen Jahrzehnten selbst nicht gelebt. Seit 16 Jahren wird das Finanzministerium nun von ÖVP-Ministern geführt (mit Ausnahme der kurzen Unterbrechung 2019, als eine Expertenregierung eingesetzt war), aber auch in dieser Zeit ist es nicht gelungen, die eigentlich Idee von Maastricht, über den Konjunkturzyklus einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, mit Leben zu erfüllen. Überschüsse, mit denen die Defizite in wirtschaftlich schwierigen Phasen ausgeglichen werden sollten, wurden nur zwei Mal erzielt - und diese fielen nur minimal aus (0,6 Prozent 2019, 0,2 Prozent 2018).
Weiter prozyklische Politik
Nach der letzten großen Staatsschuldenkrise wurden die Fiskalregeln ab 2010 nachgeschärft – rechtlich verankert in Sixpack, Twopack und Europäischem Fiskalpakt. Einerseits sollte damit eine stärkere Differenzierung zwischen den einzelnen Staaten möglich werden, die den makroökonomischen Ungleichheiten geschuldet ist. Andererseits sollte die Haushaltspolitik stärker auf das strukturelle Defizit abstellen.
Bei diesem Indikator werden Auswirkungen konjunktureller Schwankungen sowie von Einmalzahlungen herausgerechnet. Das strukturelle Defizit soll also jenen Teil des Defizits sichtbar machen, der aus einem generellen Missverhältnis zwischen Einzahlungen und Auszahlungen resultiert und nur durch Konsolidierungsmaßnahmen beseitigt werden kann. Laut EU-Regelwerk sollte es nicht größer als 0,5 Prozent sein, der österreichische Stabilitätspakt ist sogar etwas strenger und sieht eine Obergrenze von 0,45 Prozent vor.
Gewählt wurde das strukturelle Defizit, weil man davon ausging, damit prozyklische Politik (also Defizite in wirtschaftlich guten Jahren) besser vermeiden zu können. Wirklich gelungen ist das aber nicht.
Defizite in guten wie in schlechten Zeiten
Die folgende Auswertung zeigt, in wie vielen Jahren zwischen 2010 und 2023 im jeweiligen Land das Wirtschaftswachstum zwar über einem Prozent lag, aber dennoch ein strukturelles Defizit von mehr als 0,5 Prozent des BIP erwirtschaftet wurde. Österreich hatte beispielsweise in acht von 14 Jahren ein solides Wirtschaftswachstum und verzeichnete dennoch ein strukturelles Defizit, das nach der Definition der EU-Kommission größer als 0,5 Prozent des BIP war.
Schweden befindet sich wieder am anderen Ende der Skala. Das skandinavische Land verzeichnete nur einmal ein geringfügig höheres strukturelles Defizit (0,6 Prozent), wenn die Wirtschaft solide gewachsen ist. Ähnlich vorbildlich ist Dänemark unterwegs.
Aber auch Griechenland, das besonders im Fokus der letzten Schuldenkrise stand, hat es in den Jahren vor der Pandemie immerhin geschafft, (teils signifikante) strukturelle Überschüsse zu erwirtschaften, selbst wenn die Wirtschaft nicht immer real gewachsen ist.
Der schwedische Erfolgsweg hat auch mit Vorgaben zu tun, die über das EU-Regelwerk hinausgehen. Seit dem Jahr 2000 sehen die schwedischen Haushaltsregeln ein verbindliches Überschussziel vor. Es wird also nicht nur über den Konjunkturzyklus ein ausgeglichenes Budget erwartet, sondern es soll ein Plus erwirtschaftet werden. Zunächst war es ein Prozent des BIP, aktuell sind es 0,33 Prozent des BIP. Für die schwedischen Gemeinden und Provinzen gilt generell ein Verschuldungsverbot.
Im Gegensatz zu anderen Ländern wird in Schweden auch strikt auf die Einhaltung dieser Vorgaben geachtet. 13 mal seit dem Jahr 2000 konnte ein Budgetüberschuss erwirtschaftet werden (bzw. ist einer für 2023 geplant), sieben Mal lag dieser bei über einem Prozent des BIP. Dänemark erwirtschaftete seit 1995 sogar 16 Mal einen Überschuss, die Niederlande immerhin sieben Mal.
Deutlich wird bei diesem Vergleich auch, um wie viel die wirtschaftlichen Kosten niedriger ausfallen hätten können, wenn es in Österreich ein funktionierendes Pandemiemanagement bzw. treffsichere Hilfszahlungen gegeben hätte. Dänemark erwirtschaftete selbst im ersten Pandemiejahr ein kleines Plus (0,2 Prozent des BIP). Schweden verzeichnete zwar das größte Defizit seit 1995, das Minus von 2,8 Prozent macht sich aber geradezu bescheiden aus im Vergleich zu österreichischen Defizit von minus 8 Prozent. Die Niederländer lagen bei minus 3,7 Prozent.
Der in vielen Jahren etwas weniger sparsame Kurs der Österreicher führt auf lange Sicht zu deutlich schlechteren Werte. Während alle vier erwähnten Länder Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Schuldenquote hatten, liegt Österreich heute rund 45 Prozentpunkte höher als Schweden und Dänemark und immerhin 24 Prozentpunkte höher als die Niederlande.
Schlussfolgerungen
- Vielen EU-Ländern, darunter Österreich, gelingt es nach wie vor nicht ausreichend, antizyklische Budgetpolitik zu betreiben. Gute Konjunkturphasen werden nicht genutzt, um Überschüsse und somit Rücklagen für Abschwungphasen zu erwirtschaften. Vielmehr gibt es eine Tendenz, die erlaubten Defizitgrenzen im gesamten Verlauf von Konjunkturzyklen auszuschöpfen. Eine weitere Tendenz besteht darin, strukturelle Reformen in die Zukunft zu verschieben.
- Möchte Österreich tatsächlich zu den "frugalen Vier" gehören, müssen auch strukturelle Reformen auf der Ausgabenseite angegangen werden.
- Die Fiskalregeln sollten daher stärker als bisher in Richtung Ausgabenobergrenzen verschärft werden. Schweden kann dabei als Vorbild genommen werden. Seit einer schweren Schuldenkrise in den 1990er Jahren sieht das Haushaltsrecht in dem skandinavischen Land vor, dass Ausgabenobergrenzen für den Bund sowie das Pensionssystem drei Jahre im Vorhinein festgelegt werden müssen. Nur in klar definierten Ausnahmefällen, etwa einem Wirtschaftseinbruch, kann von den Obergrenzen abgewichen werden.
- Da die bisherigen Mechanismen nicht ausreichen, um eine prozyklische Budgetpolitik zu vermeiden, sollte es nicht nur definierte Defizitobergrenzen für Abschwungphasen, sondern auch Überschussuntergrenzen für Hochkonjunkturphasen geben. So können ausgeglichene Budgets über den Konjunkturzyklus gesichert werden, und Regierungen könnten nicht darauf „vergessen“, in Wachstumszeiten positiv zu budgetieren.
- Nicht unterschätzt werden sollte aber auch, welche Rolle eine breite politische und gesellschaftliche Akzeptanz von nachhaltiger Haushaltsführung haben kann. Hohe Schuldenberge können nicht mit kleinen, nicht spürbaren Gegenmaßnahmen binnen weniger Jahre abgebaut werden. Nur wenn ein eingeschlagener finanzpolitischer Kurs auch nach Wahlen in seinen Grundzügen fortgeführt wird, kann ein dauerhaftes Abbauen der Schuldenberge gelingen. Gibt es nicht einmal Konsens darüber, dass eine wettbewerbsorientierte, ökologische Marktwirtschaft auch in Zukunft das europäische Wirtschaftssystem sein wird, wird auch keine dauerhafte Budgetkonsolidierung gelingen.
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