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„Arschknapp“ – warum jede Stimme zählt

Lucia Marjanovic
Lucia Marjanovic

Dass jede Stimme zählt, ist eine oft bemühte Weisheit. So falsch ist sie aber tatsächlich nicht. 5 Erkenntnisse aus der Nationalratswahl 2024.

Eine einzelne Stimme trägt wenig dazu bei, wie die Grafik mit der Stimmenverteilung am Wahlabend aussieht. Es geht aber um mehr als um Prozentzahlen. Bei der Frage, wer tatsächlich in den Nationalrat einzieht und für wen es sich nicht ausgeht, geben oft nur wenige hundert Stimmen den Ausschlag – oder noch weniger. Es ist also, um unseren Bundespräsidenten zu zitieren, „arschknapp“.

1. Die Wahlbeteiligung macht einen großen Unterschied

Die SPÖ hat mehr Stimmen (um 20.366) als 2019 – und trotzdem Anteile verloren. Das liegt daran, dass 2024 rund 80.000 gültige Stimmen mehr abgegeben worden sind. Damit entfallen 0,04 Prozentpunkte weniger auf die SPÖ. 

Dennoch hat die Partei ein Nationalratsmandat dazugewonnen. Das liegt an der komplexen Berechnungsmethode für die Mandatsaufteilung (mehr dazu hier). 

Die FPÖ wiederum hat diesmal auch so gut abgeschnitten, weil sie viele bisherige Nichtwähler von sich überzeugen konnte.

2. „Arschknapp“ – die Mandatsmehrheit von ÖVP und SPÖ 

Eine Koalition aus ÖVP und SPÖ wäre mit einer knappen Mehrheit möglich, es ist sogar die denkbar knappste – die beiden historischen Großparteien haben zusammen nur 92 Mandate. Das war lange nicht gewiss: In den ersten Hochrechnungen sah es noch so aus, als ob es nicht reichen würde, dann wurden zwei Mandate Überhang prognostiziert. Es war also wirklich sehr knapp. 

In der Praxis ist so eine dünne Mandatsmehrheit mehr als nur mühselig. Denn bei Abstimmungen im Parlament sind selten alle Abgeordneten anwesend. Neben Krankheit, Terminen, Gesprächen mit Bürger:innen und anderen Abwesenheitsgründen ist es außerdem nicht üblich, dass die Präsidentinnen und Präsidenten, die ja ebenfalls Abgeordnete der beiden Fraktionen sind, mitstimmen, auch wenn das möglich wäre. Und kein:e einzige:r Abgeordnete dürfte ausscheren; andernfalls wird die erforderliche Mehrheit für Gesetzesbeschlüsse nicht erreicht. 

3. NEOS verpassten ein Landesmandat um 210 Stimmen 

Mit 210 weiteren Stimmen hätte es für NEOS für ein Landesmandat in Salzburg gereicht. Das zeigt, dass sogar auf Ebene der Landeswahlkreise knappe Ergebnisse möglich sind.  NEOS haben dennoch insgesamt 18 Mandate erreicht – so viel wie noch nie. 

4. ÖVP-Abgeordneter verpasst den Wiedereinzug um 27 Stimmen 

Noch um einiges knapper war es im Burgenland: 27 Stimmen haben gefehlt, sodass der langjährige ÖVP-Abgeordnete Nikolaus Berlakovich nun nicht in den Nationalrat einziehen wird.

5. Umreihungen durch Vorzugsstimmen sind sehr schwierig, aber möglich 

Wie viele Mandate von Landes-, Bundes- oder Regionalwahllisten kommen, dafür gibt es Berechnungsverfahren. Was aber, wenn eine Wählerin mit der Reihung der Kandidaten auf der Liste nicht zufrieden ist? Dann kann sie eine Vorzugsstimme vergeben. 

Mehrere Kandidatinnen und Kandidaten führten einen Vorzugsstimmenwahlkampf, um auf der Liste so weit vorgereiht zu werden, dass sich ein Einzug in den Nationalrat doch noch ausgeht. Die Hürden dafür sind aber sehr hoch:

  • Für eine Vorreihung auf der Regionalwahlliste braucht man mindestens 14 Prozent der auf die jeweilige Partei im Regionalwahlkreis entfallenden Stimmen. 
  • Um auf der Landeswahlliste vorgereiht zu werden, sind 10 Prozent der auf die jeweilige Partei im Landeswahlkreis entfallenden Stimmen nötig. 
  • Für eine Vorreihung auf der Bundesliste müssen Vorzugsstimmen im Ausmaß von mindestens 7 Prozent der auf die jeweilige Partei entfallenden Stimmen erzielt werden. 

Nikolaus Kowall (SPÖ) bekam nur ein Drittel der benötigten Stimmen, obwohl er mit Abstand die meisten Vorzugsstimmen innerhalb der SPÖ Wien erzielte, und kritisierte, dass das System zu komplex und die Hürden zu hoch seien und die Wähler:innen eigentlich gar keinen Einfluss nehmen könnten. 

Doch unmöglich ist es nicht: Der Tiroler Christoph Steiner, derzeit FPÖ-Bundesrat und Gemeindevorstand von Zell am Ziller, erhielt auf der Bundesebene 6.587 Stimmen, auf Landesebene 7.746 Stimmen und im Regionalwahlkreis Innsbruck-Land 11.684 Stimmen. Damit hat er ein Grundmandat im Wahlkreis erreicht und zieht in den Nationalrat ein. Aufgrund von Steiners Vorreihung muss der landesweite Spitzenkandidat Peter Wurm das Landeslistenmandat annehmen, und der auf Platz drei der Landesliste gereihte Fabian Walch geht leer aus. 

Auch Marlene Svazek, Landeshauptmann-Stellvertreterin in Salzburg und Landes-FPÖ-Chefin erreichte auf der Regionalwahlkreisliste die nötigen 14 Prozent für eine Vorreihung auf Platz 1 und damit ein Grundmandat. Sie wird dieses allerdings nicht annehmen. Zum letzten Mal gelang eine solche Umreihung 1992. 

Eine einzelne Stimme mag insgesamt wenig zum Wahlergebnis beitragen, doch wie man sieht, kommt es häufig auf einzelne Stimmen an.

(Bild: Montage/Parlamentsdirektion/Christian Hikade)

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