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Aufbruchstimmung für Europa

Lukas Sustala
Lukas Sustala

Die Europäische Union steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Reformvorschläge liegen auf dem Tisch, und viele davon haben NEOS bereits gemacht.

Russland führt immer noch einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Weltweit wird ein geopolitisches Kräftemessen mit globalen Mächten wie China immer offensichtlicher. Und da wären noch die großen Herausforderungen unserer Zeit: der Klimaschutz, der Investitionen und Innovationen im Energiebereich erfordert, und der demografische Wandel, der Sozialstaaten und Arbeitsmärkte vor Herausforderungen stellt.

Wettbewerbsfähigkeit im Fokus

In dieser Gemengelage geht in Brüssel zudem gerade eine Sorge um: dass Europa den Anschluss verliert. Eine der Grafiken, die dabei gerne herumgereicht wird, ist die folgende: Sie zeigt die Wirtschaftsleistung der Eurozone im Vergleich mit den USA und China. Und sie zeigt für den Euroraum eine Stagnation seit 2008: 0 Prozent Wachstum bis 2022. Seit damals ziehen die USA dem Euroraum in Sachen Wirtschaftsleistung davon. China überholte zudem im Jahr 2018.

Nun ist die Grafik nicht für bare Münze zu nehmen, wie Zsolt Darvas, Ökonom des Brüsseler Thinktanks Bruegel, in einer ausführlichen Analyse argumentiert. Ihm zufolge steht Europa wesentlich besser da, als die Grafik vermuten lässt. Denn ein internationaler Vergleich müsste die unterschiedlichen Entwicklungen der Währungen und Inflationsraten berücksichtigen, um wirklich zu beurteilen, wie die unterschiedlichen Wirtschaftsräume dastehen. Und in Sachen Kaufkraft und Einkommen pro Kopf würde Europa langsam aufholen. Zudem gibt es nach wie vor besonders wettbewerbsfähige Regionen in Europa, etwa Deutschland, die Niederlande oder eben Österreich. 

Doch nicht zuletzt die Gaskrise ab 2021, als die Preise für Energie in Europa angefangen haben, deutlich über die US-amerikanischen zu steigen, hat die Sorge vor der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit verschärft. 

Sorge Energiesicherheit

Was Energiesicherheit betrifft, treibt viele Menschen in Brüssel eine große Sorge um: Dass die EU auf diesen Wendepunkt nicht vorbereitet ist und der politische Auftrieb von Rechts- und Linkspopulisten eine konstruktive Weiterentwicklung der Union verunmöglichen.

Diese Sorge wird von einem Gefühl begleitet, dass Europa zum Nebenschauplatz wird. Die USA und China ringen in zentralen technologischen und ökonomischen Bereichen um die Vorherrschaft. Im aktuellen Krieg, den die Hamas gegen Israel begonnen hat, spricht Europa nicht mit einer Stimme und wird von keiner Seite als relevanter Akteur für die eigene Sicherheit angesehen. Europas rasche und klare Antwort auf Russlands Krieg gegen die Ukraine habe das Potenzial gehabt aufzuzeigen, was ein „geopolitisches Europa“ bedeutet. Der Krieg gegen Israel zeigt seinen Absturz, kommentierte die Politikwissenschaftlerin Nathalie Tocci: „ Europe’s approach to Ukraine held the premise of showing what a geopolitical Europe could mean. The Middle East now reveals its demise.“

Dabei liegt nicht nur auf der Hand, welche Reformen es in Europa braucht. Mittlerweile präsentieren unterschiedliche Institutionen bereits mit Blick auf die EU-Wahlen am 9. Juni 2024, welche Reformen angegangen werden müssen. Im EU-Parlament wurde jüngst ein Bericht mit einer Mehrheit beschlossen, der eine tiefgreifende Transformation der Union in Richtung „Vereinigte Staaten von Europa“ vorschlägt. Leider findet dieses Thema in Österreich kaum Widerhall. Die Schweizer NZZ schreibt etwa, dass der Trend zu einer besseren Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren einzelnen Mitgliedstaaten auf der Hand liegt: „Ob Pandemie, Klimawandel, Russland, China oder der Umgang mit künstlicher Intelligenz: Manche Fragen erscheinen zu groß für die einzelnen Mitgliedsländer.“ 

Jenseits von Österreich wird es konstruktiv

In diesem Kontext schlägt das EU-Parlament vor, die Einstimmigkeit in Steuer- und Außenpolitik zu eliminieren und durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Dieser Schritt hin zu einer effizienteren Entscheidungsfindung, verbunden mit einer potenziellen Verteidigungsunion mit gemeinsamen europäischen Militäreinheiten, würde einen signifikanten Fortschritt in der europäischen Integration bedeuten. Teilweise lesen sich die 44 Vorschläge, die das Europäische Parlament passiert haben, wie eine Kopie des NEOS-Wahlprogramms von 2018. Es zeigt jedenfalls ein Europa, das in der Lage ist, effektiv auf globale Herausforderungen zu reagieren und kollektiv zu handeln, um seine Bürger:innen zu schützen und zu fördern. Angesichts der vielen Erweiterungsschritte in den vergangenen drei Jahrzehnten (siehe Grafik) ist eine Reform von Entscheidungsverfahren und Institutionen hoch an der Zeit. 

Die Diskussionen im EU-Parlament zeigen, dass es jenseits von Österreich gerade eine konstruktive und zukunftsorientierte Reformdebatte um Europa gibt. Das geht angesichts der innenpolitischen Skandale und der Selbstbeschäftigung der Regierungsparteien zwar etwas unter, aber es werden gerade Weichen gestellt, die die Zukunft der EU und ihrer Mitgliedstaaten prägen werden. Nun haben die Vorschläge des EU-Parlaments vielleicht keine Aussicht auf eine klare europäische Mehrheit. Aber parallel zu den Reformvorschlägen des EU-Parlaments gibt es noch weitere Vorschläge.

Vorschläge für ein handlungsfähiges Europa

So hat eine Gruppe deutsch-französischer Expert:innen vor kurzem Vorschläge auf den Tisch gelegt, die Europa „fit für die Zukunft“ machen sollen (Auswärtiges Amt). Der Vorschlag Deutschlands und Frankreichs zur Weiterentwicklung der Europäischen Union (EU) konzentriert sich auf mehrere Schlüsselbereiche. Das Ziel ist vielfach ein „handlungsfähiges Europa“, das auf Erweiterungen vorbereitet ist und die Rechtsstaatlichkeit sowie die demokratische Legitimität stärkt.

  • Schutz der Rechtsstaatlichkeit: Der Bericht empfiehlt die Stärkung der Budgetkonditionalität und eine Überarbeitung von Artikel 7 des EU-Vertrags durch eine Vertragsrevision. Länder wie Ungarn, die ihre liberale Demokratie Schritt für Schritt schwächen, werden sich gegen diesen Vorschlag besonders wehren.
  • Institutionelle Herausforderungen: Der Bericht stellt zudem die deutsch-französische Sicht dar, wie die Entscheidungsprozesse im Rat zu reformieren sind. Auch hier wird empfohlen, das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten eines qualifizierten Mehrheitsvotums (QMV) abzuschaffen und die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments zu erweitern.  
  • Demokratische Legitimität auf EU-Ebene: Hier werden vier Maßnahmenbündel vorgeschlagen, darunter die Harmonisierung der Wahlgesetze für EP-Wahlen, eine echte „Spitzenkandidaten“-Prozedur für die Ernennung des Kommissionspräsidenten, eine engere Verbindung zwischen den bestehenden, aber kaum öffentlich bekannten Instrumenten der Bürgerbeteiligung und EU-Entscheidungsprozessen sowie die Einrichtung eines neuen unabhängigen Amts für Transparenz und Integrität. Das ist insbesondere angesichts des Korruptionsskandals, der das Europäische Parlament seit dem Vorjahr erschüttert, notwendig. 
  • Macht und Kompetenzen der EU: Der Bericht empfiehlt auch einen wirklichen „Evergreen“, nämlich die Zuständigkeiten der EU zu klären und die europäische Ebene für künftige Entwicklungen zu stärken und das Parlament besser einzubinden.  
  • EU-Haushalt und Finanzierung: Das EU-Budget ist und bleibt ein vergleichsweise kleiner Posten. In den vergangenen Jahren hat man sich mit immer neuen „Krisenbekämpfungsfonds“ durchgeschummelt, doch die deutsch-französische Gruppe schlägt vor, den EU-Haushalt in Relation zum BIP zu erhöhen und flexibler zu gestalten. Vage bleibt die Forderung nach neuen eigenen Abgaben und Steuern, konkret ist die Ermöglichung einer gemeinsamen Verschuldungsmöglichkeit.  
  • Vertiefung und Erweiterung der EU: Der Bericht diskutiert sechs Optionen für eine Vertragsänderung, darunter ein Konvent. Außerdem werden drei alternative Szenarien für die Reform der EU im Rahmen der Beitrittsverträge und ein ergänzender Vertrag unter willigen Mitgliedstaaten zur Differenzierung innerhalb der EU vorgeschlagen. „Ein Europa der vier Geschwindigkeiten“ wäre die Folge.
  • Verwaltung des EU-Erweiterungsprozesses: Der Bericht schlägt vor, das Ziel zu setzen, dass beide Seiten – die EU und die Beitrittskandidaten – bis 2030 bereit für eine Erweiterung sind. Er empfiehlt, die Beitrittsrunden in kleinere Ländergruppen („Regatta“) aufzuteilen. 

Beide vorgelegten Papiere sind diskussionswürdig. Aber sie zeigen für die österreichische Politik vor allem: Es ist hoch an der Zeit, dass die Innenpolitik ihre Energie stärker auf die Reformen des gemeinsamen Europas legt, anstatt sich in endlosen politischen Grabenkämpfen zu verlieren. Die Regierung ist europapolitisch nur mit dem Schengen-Veto gegen Bulgarien und Rumänien aufgefallen. Sie hat sich in Europa weitgehend isoliert, während in Parlament, Kommission und auf Ebene der großen Mitgliedstaaten Vorschläge diskutiert werden, um die Herausforderungen von morgen anzugehen.  

Europa neu (be)gründen. So hieß der Leitantrag von NEOS vor der Europa-Wahl 2019. Nach verschiedenen Krisen und kurzfristigen Lösungen ist dieser Aufruf auf der Brüsseler Ebene angekommen. Europa steht an einem Wendepunkt. 

(Bild: AlxeyPnferov/iStock)

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