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Keine liberale Demokratie ohne Sicherheit

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Abgesehen von den unzähligen menschlichen Opfern und Zerstörungen hat der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eines schmerzlich verdeutlicht: Eine unabhängige Sicherheitspolitik und eine nachhaltige Energiesicherheit zählen zu den Grundvoraussetzungen für eine konsolidierte liberale Demokratie in Europa. 

In ihrem Beitrag für die aktuelle ELF-Studie Towards a New European Security Architecture“ haben Silvia Nadjivan und Lukas Sustala diese Herausforderung analysiert und daran anschließend konkrete Handlungsempfehlungen formuliert. Im Folgenden die zentralen Aussagen. 

Was vor der vielzitierten „Zeitenwende“ kaum jemand für möglich gehalten hätte, ist Wirklichkeit geworden: nämlich Energielieferungen als Waffe einzusetzen. Das System Putin hat trotz gültiger Handelsverträge Gaslieferungen eingestellt und erpresst Europa damit. Die notwendig gewordenen EU-Sanktionen gegen Russland, um dessen Feldzug nicht zusätzlich zu finanzieren, haben Europa in eine beispiellose Energiekrise gestürzt, was einen weitreichenden Inflationsschock ausgelöst hat. Besonders betroffen waren und sind weiterhin Länder, die vom russischen Gas abhängig sind, darunter ost- und südosteuropäische Staaten sowie die Westbalkan-Region (WB6) und auch Österreich.

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Notwendige Diversifizierung von Energiequellen 

Anstatt sich wie bisher vorwiegend auf einen Energielieferanten zu verlassen, wird es in Zukunft darum gehen, die Energiegewinnung und -lieferungen zu diversifizieren und den Fokus auf erneuerbare Energien zu setzen. Was sich in Österreich gerade in Vorbereitung befindet, steht auf EU-Ebene bereits an erster Stelle. So hat die Europäische Kommission bereits 300 Milliarden Euro in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert. Einzig die Geschwindigkeit ist noch nicht zufriedenstellend, weil der aktuelle Energiebedarf ohne Rückgriff auf fossile Brennstoffe noch nicht abgedeckt werden kann. Als Zwischenlösung haben EU-Länder Verträge für die Einfuhr von vergleichsweise teurerem Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) unterzeichnet. Den finanziellen Verlust abfedern konnten bisher der vergleichsweise milde Winter 2022/2023, volle Gasspeicher sowie LNG-Importe aus Norwegen. Gemeinsames Ziel ist es, die vollständige Unabhängigkeit von russischem Gas noch weit vor 2030 zu erreichen, so die EU-Kommission.

Regionale Zusammenarbeit – das Gebot der Stunde 

Da die gleichzeitige Energiesicherheit und Dekarbonisierung in Europa nur gemeinsam erreicht werden können, hat die EU eine Energieplattform errichtet und sogleich die Westbalkan-Staaten (WB6) darin aufgenommen oder zumindest dazu eingeladen, um gemeinsame Gas- und Wasserstoffkäufe zu tätigen. Neben LNG werden Wasserstoff und Erneuerbare die Energieträger der Zukunft sein. 

Alle drei Energiequellen machen allerdings einen hohen Investitionsaufwand notwendig, weil sich ihre Gewinnung von bisherigen Energiequellen völlig unterscheidet. Eine weitere Herausforderung ist, dass Windparks aus optischen Gründen in der Nähe von Wohnsiedlungen größtenteils abgelehnt werden. Um diesen Vorbehalten entgegenzuwirken, ist eine umfassende Informations-, Bildungs- und Bewusstseinsarbeit nötig. Denn nur die Unabhängigkeit von russischem Gas und Autarkie in der Energiegewinnung kann nachhaltig liberale Demokratie in Europa garantieren, weil nur so manipulative Einflussnahme und Intrigen des autokratischen Systems Putin auf ein Minimum reduziert werden können. Mit anderen Worten garantiert autarke Energiesicherheit auf lange Sicht Menschenrechte, Meinungsfreiheit und liberale Demokratie in Europa. Jetzt dürfen demokratische Prinzipien und liberale Werte nicht mehr für vorgeblich niedrigere Energiepreise und scheinbar verlässliche Energielieferungen riskiert werden. War Autarkie bereits vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Teil der europäischen Sicherheitspolitik, so steht jetzt deren rasche Umsetzung an.

Empfehlungen für eine nachhaltige Sicherheitspolitik in Europa 

Sicherheitspolitik in Europa beinhaltet allen voran eine nachhaltige Energiepolitik, um vom unerwünschten Einfluss Dritter unabhängig und resilient zu sein, vor allem mit Blick auf Putins Russland. Dieses hat anstatt Europa zu spalten einen verstärkten innereuropäischen Zusammenhalt forciert; und zwar in Richtung Energiewende und hinsichtlich einer höheren Bereitschaft, in erneuerbare Energien zu investieren. Obwohl sich ein Ende des laufenden Kriegs gegen die Ukraine nicht abzeichnet, sind dennoch Strategien und Konzepte für die Zeit danach und das außenpolitische Verhältnis zu Russland erforderlich – mit oder ohne Putin.

Folgende Empfehlungen für eine zukünftige EU-Policy, auch in Anlehnung an Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, wären in Erwägung zu ziehen:

  • Die EU-Erweiterung und Nachbarschaftspolitik braucht neuen Schwung, um gemeinsam mit dem Westbalkan, dem Südkaukasus und der Schwarzmeerregion die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Diversifizierung von Energiequellen inklusive Ausbau von Erneuerbaren stärker voranzubringen.
  • Die Energieimporte aus Russland, nämlich von Gas und Öl, sind möglichst auf null zu setzen, um dem intriganten Einfluss von Putins System ein Ende zu setzen und die liberale Demokratie in ganz Europa und damit auch in der Westbalkan-Region und der EU-Nachbarschaft zu stärken. Positive Folgen der Solidarität zwischen den unterschiedlichen EU-Ländern, die energiepolitisch alle in unterschiedlichen Lagen sind, dürfen nicht unterschätzt werden.
  • Die oppositionelle Zivilgesellschaft in und außerhalb Russlands sollte international gestärkt werden. Notwendig wären eine gemeinsame Plattform und damit ein geschützter, hybrider Raum für sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit dem „anderen Russland“. Diese liberal-demokratischen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sollten in die Entwicklung eines demokratischen Post-Putin-Russlands einbezogen werden; auch wenn diese Option gegenwärtig unwahrscheinlich erscheint.
  • Europa benötigt ein gemeinsames, harmonisiertes Visaregime für Russlandflüchtlinge, damit Entscheidungen über die Zuerkennung nicht mehr rein auf nationaler Ebene erfolgen. Mit einer dringend notwendigen Einigung wäre auch der Weg frei für ein europaweit standardisiertes Kontrollsystem zu Motivation und Fluchtgrund von Asylbewerber:innen. Damit wäre Europa im Zuge möglicher zukünftiger Repressionen durch das russische Regime für angemessene Reaktionen entsprechend ausgestattet.
  • Langfristig betrachtet sollte Russland nicht völlig aus den internationalen Beziehungen ausgeschlossen bleiben. Auch wenn sich die Erwartung an eine liberal-demokratische Wende in Grenzen hält, würde eine langfristige finanzielle und technologische Isolation Russlands vom europäischen Markt zu einem Teufelskreis der Isolation führen, vergleichbar mit der verzwickten Situation des Iran.

Während auf mittlere bis lange Sicht die Option eines russischen Regimewechsels nicht verpasst werden darf, geht es ad hoc darum, Energiepolitik als „Soft Power“ von Sicherheitspolitik so weit autark zu gestalten, dass Erpressungen und Drohungen vonseiten des Kremls nicht mehr greifen. Genau diese Unabhängigkeit bildet die existenzielle Grundlage für eine konsolidierte liberale Demokratie in Europa.

(Bild: iStock)

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