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Neutralität ist keine Ausrede für Rückgratlosigkeit

Dieter Feierabend
Dieter Feierabend

Photo by Egor Lyfar on Unsplash.

Was sich viele Menschen nicht vorstellen konnten, ist seit Ende Februar Realität, ein Krieg in Europa. Der Russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der größte militärische Konflikt auf europäischen Boden seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Als Reaktion darauf wurde nicht nur das bisher größte Sanktionspaket von EU-Staaten geschnürt, auch sicherheitspolitisch wurden in kurzer Zeit Maßnahmen gesetzt, die lange als undenkbar galten. Schweden lieferte erstmals seit dem 2. Weltkrieg Waffen an ein Land, das in Kriegshandlungen verwickelt ist, Deutschland beschloss eine Modernisierung der Bundeswehr um 100 Mrd. Euro und die Schweiz, die noch 2014 nach der Besetzung der Krim keine Sanktionen verhängte, übernahm das Sanktionspaket der EU. In allen europäischen Staaten werden derzeit Debatten über die Sicherheitspolitik geführt. Für neutrale oder bündnisfreie Staaten wie Irland, Schweden, Finnland oder Österreich stellt sich die Frage, ob und wie die Neutralität weiterhin die Interessen des eigenen Landes schützt und ob, wie in Schweden oder Finnland in Diskussion, ein NATO-Beitritt zu einer Stärkung der Sicherheit führen würde. 

Diese Fragen stellen sich auch in Österreich, jedoch ist der politische Wille zur Diskussion überschaubar. Bundeskanzler Nehammer möchte die Debatte beenden, noch bevor sie gestartet wurde, die FPÖ (und für kurze Zeit auch die SPÖ) lehnt eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit Verweis auf die Neutralität ab. Der Begriff Neutralität wird hierbei sehr schwammig und als Synonym von Haltungslosigkeit verwendet. In Europa herrscht Krieg und, ob Österreich will oder nicht, Sicherheitspolitik wird auf absehbare Zeit ein Thema bleiben. Damit stellt sich auch die Frage, wie wir unsere Neutralität ausgestalten. Folgende vier Grundsätze können dabei beachtet werden:

Neutralität hat mehr als eine Auslegung

Ralph Janik, Experte für Menschenrechte und Völkerrecht, hat im NEOS Lab Podcast klar definiert, dass sich Neutralitätsverpflichtungen im völkerrechtlichen Sinne immer wieder verändern. Dies liegt daran, dass jeder Krieg anders ist. Sanktionen gegen eine Konfliktpartei, im konkreten Fall Russland, stehen daher nicht per se im Widerspruch zur Neutralität. In jedem Krieg liegt es also an uns, sowohl die Neutralitätsverpflichtungen, als auch unsere politischen Maßnahmen entsprechend auszurichten. Das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität in Österreich, beschlossen am 26.10.1955, besteht aus drei Absätzen, zwei Artikeln und einer Kernaussage: Österreich darf weder einem Militärbündnis beitreten, noch ist es fremden Staaten erlaubt, militärische Stützpunkte (also die dauerhafte Stationierung von Truppen) zu errichten. Neben völkerrechtlichen Verpflichtungen von neutralen Staaten, unter anderem festgehalten in den Haager Abkommen, hat die Neutralität daher mehr als eine Auslegung.

Das österreichische Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität. 

Neutralität ist nicht gleich Neutralitätspolitik

Besonders restriktive Auslegungen der Neutralität werden in Österreich durch FPÖ und MFG vertreten. Während die FPÖ Sanktionen als Bruch des Völkerrechts sieht (was sie allerdings nicht sind, wie Janik im oben genannten Podcast klarstellt), leitet die MFG aus der Neutralität ab, dass man neben der Ukraine auch an Russland Equipment wie Helme oder Schusswesten liefern muss: auch das ist nicht der Fall und sogar eine irritierende Interpretation von Neutralität. In keinem Falle schreibt diese nämlich vor, in einem internationalen Konflikt Aggressor und Opfer gleich zu behandeln. Dies sind politische Einstellungen, aus der Neutralität ergeben sich diese Positionen nicht.

Neutralität ist daher nicht mit Neutralitätspolitik, also wie wir Neutralitätsverpflichtungen und unsere Außen- und Sicherheitspolitik in Konfliktfällen ausgestalten, gleichzusetzen. In Österreich hat sich eine deutliche Mehrheit der Parteien darauf verständigt, dass Russland für die eklatanten Brüche von Menschen- und Völkerrecht mit Sanktionen belegt werden soll. Es steht Österreich jederzeit frei, auf Basis eigener Kriterien (weitere) Sanktionen zu verhängen. Die Bundesregierung, und fast alle im Parlament vertretenen Parteien, setzen auf einen staatenübergreifenden Ansatz, also eine enge Abstimmung mit EU-Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union.

Neutralität kann nicht ohne die europäische Ebene gedacht werden

Wenn es um die österreichische Neutralität geht, wird gerne die Funktion des "Brückenbauers" zwischen Konfliktparteien erwähnt. Demzufolge würden Konfliktparteien Österreich als neutralen Vermittler sehen. Doch ist dies so? Seit 1995 sind wir Mitglied eines supranationalen Bündnisses, der Europäischen Union. Rainer Hable zeigt in einem Gastbeitrag für den Kurier eindrücklich die Wahrheit auf, „dass Österreich durch die uneingeschränkte Bindung an die EU-Sicherheitspolitik mit der Neutralität gebrochen hat“. Und das zeigt auch den Widerspruch, wie politische Eliten über die Neutralität reden und welche Verpflichtungen Österreich in Wirklichkeit eingegangen ist. Denn es gibt eine weitere Komponente zu berücksichtigen: die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Wie die folgende Karte zeigt, gab es seit 2002 in über 30 Staaten entweder zivile oder militärische Missionen, die auf europäischer Ebene beschlossen wurden, so auch in der Ukraine zur Stärkung des zivilen Sicherheitssektors. Selbst wenn Österreich die Sanktionen gegen Russland nicht mitgetragen hätte, wie glaubwürdig wären wir als "Brückenbauer" in diesem Konfliktfall? Dass sich Österreich aktiv an diesen Missionen beteiligt, ist gut und richtig. Die zivile Sicherheit in der Ukraine zu stärken oder durch militärische Präsenz zu einem sicheren Umfeld in Bosnien und Herzegowina beizutragen, in dem das Dayton-Abkommen umgesetzt werden kann, ist eindeutig im Interesse Österreichs. Neutralität und Neutralitätspolitik bedeuten nicht, dass wir auf die Durchsetzung österreichischer Interessen verzichten.

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Europäische Union (in Blau) und Staaten in denen die EU militärische oder zivile Missionen seit 2002 durchgeführt hat (in Rot); Bildquelle: Wikipedia

Neutralität ist nicht mit Sicherheit gleichzusetzen

„Die Neutralität stärkt unsere Sicherheit!“ sagte SPÖ Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner kurz nach Beginn des Krieges. Aussagen wie diese hört man in Österreich oft, insbesondere wenn es um militärische Konflikte geht. Man muss gar nicht den aktuellen Krieg bemühen (Ukraine ist ein bündnisfreier Staat), um zu sehen, dass die Neutralität nicht mit Sicherheit gleichzusetzen ist. Die Überfälle Deutschlands auf neutrale Staaten Belgien den Niederlanden, Dänemark oder Norwegen im ersten und zweiten Weltkrieg zeigen auch aus historischer Perspektive, dass die Neutralität nicht vor militärischen Konflikten schützt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bekamen Forscher teilweise Zugriff auf die Archive Moskaus. Im Falle eines Sowjetischen Nuklearangriffs wäre Österreich bzw. Wien eines der ersten Angriffsziele gewesen (Independent). So viel zur Brückenbauerfunktion Österreichs und der Sicherheit durch die Neutralität. Auch die Ukraine musste mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 erleben, welchen "Schutz" ihr die Bündnisfreiheit einbrachte.

In Österreich hat dieser Irrglaube an die schützende Neutralität auch sicherheitspolitische Konsequenzen, weil dafür der Zustand des Bundesheers vernachlässigt wurde, und wir schmälern durch die politisch beabsichtigte Fehlinterpretation unsere Europa- und Außenpolitik. Wer noch immer der Ansicht ist, dass Neutralität auch Sicherheit bedeutet, muss sich nur ansehen, wie offen Schweden und Finnland von Russland zuletzt gedroht wurde (Bloomberg). Dort stellt sich angesichts des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine die Frage der NATO-Mitgliedschaft völlig neu – und deutlich mehr Menschen sehen einen Beitritt zum westlichen Militärbündnis als wichtige Sicherheitsgarantie. 

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Schlagzeile der belgischen Tageszeitung LE Soir im August 2014 zur deutschen Invasion des neutralen Belgiens; Bildquelle: Wikiwand

Fakt ist, dass die europäische Sicherheitsordnung – die Europa nach dem Zerfall der UDSSR ausmachte – seit Ende Februar Geschichte ist. Wladimir Putin versucht mit Blut eine komplett neue zu bilden. Es liegt gerade auch an den Europäer_innen, eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die Frieden, Freiheit, Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit garantiert. Österreich kann hier eine aktive Rolle einnehmen und sollte sich nicht hinter einer falsch verstandenen Neutralität verstecken. Wie sich die Sicherheitsarchitektur durch den Krieg verändert, welche Ziele Putin hat und was dies für Europa bedeutet diskutieren wir am 29.03.2022mit dem Experten und Russlandkenner Ivan Krastev ab 18:00 im Haus des Meeres in Wien. Anmelden können Sie sich hier.

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