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im Schatten des Kriegs – Russlands strategische Kalküle

Zwei Jahre nach Beginn des Kriegs in der Ukraine ist noch kein Ende absehbar. Das hat auch Folgen für Wirtschaft, Politik unsd Sicherheit in Europa. Die geopolitische Expertin Velina Tchakarova skizziert drei mögliche Szenarien, wie es weitergehen kann.

Die strategischen Ziele, die Russland im Rahmen seines Kriegs gegen die Ukraine verfolgt, gewinnen zunehmend an Relevanz – und das nicht nur auf geopolitischer, sondern auch auf geoökonomischer Ebene. Angesichts der Tatsache, dass der Krieg auch im Jahr 2024 keine Anzeichen für ein absehbares Ende zeigt, rücken die daraus resultierenden negativen Folgen für das europäische Wirtschaftssystem, die tragenden Säulen liberaler europäischer Politik sowie die weitreichende Sicherheitsstruktur in Europa verstärkt in den Mittelpunkt. Dieser Text analysiert die primären Ziele der russischen Kriegsführung sowohl aus geopolitischer als auch aus geoökonomischer Sicht und verweist auf die potenziellen Zukunftsszenarien.

Russlands geopolitische und geoökonomische Kriegsführung

Angesichts der angespannten Lage zwischen Russland und der Ukraine, die das geopolitische Gefüge Europas schwerwiegend prägt, zeichnen sich die weitreichenden Auswirkungen als bedrohliche Wolken am Horizont ab. Die mehrdimensionale Strategie Moskaus gegenüber Europa stützt sich auf drei eng miteinander verwobene Säulen:

  1. eine direkte militärische Invasion in der Ukraine, die die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterwerfung des Landes anstrebt,
  2. eine nichtkinetische Kriegsführung, die darauf abzielt, westliche Werte, Prinzipien und Standards zu untergraben[1] und politische Kräfte mit prorussischer Ausrichtung auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu fördern, sowie
  3. eine geoökonomische Offensive, die den gezielten Einsatz von Rohstoffen als Druckmittel bzw. geopolitische Waffe gegen das europäische Wirtschaftssystem umfasst.

Diese facettenreiche Strategie verdeutlicht die Komplexität des russischen Ansatzes und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Gewährleistung der europäischen Sicherheit und Ordnung. Sie nutzt sowohl direkte als auch subtile Einflussmethoden, um die Stabilität und Einheit des Westens zu untergraben. Instrumente wie nukleare Erpressung (die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen), Informationskriegführung, Cyberangriffe sowie hybride Kriegsformen einschließlich Mis- und Desinformation und psychologische Kriegsführung werden regelmäßig eingesetzt.Die schleichende Erosion westlicher Werte, Normen und Standards in den Gesellschaften Europas, sowohl auf offensichtliche als auch auf subtile Weise, bildet eine ernsthafte Gefahr für das innere Sicherheitsgerüst der Europäischen Union in einem entscheidenden Wahljahr auf dem Kontinent. Die allmähliche Unterminierung der grundlegenden Prinzipien, auf denen die Union basiert, könnte langfristig die Integrität der Union von innen heraus schwächen.

Parallel dazu stellt die geoökonomische Kriegsführung eine erhebliche Bedrohung für die äußere Sicherheit der EU dar und versetzt Europa angesichts der volatilen Dynamiken der zunehmend komplexeren globalen Lage in eine prekäre Position. Die Instrumentalisierung von Abhängigkeiten in den Bereichen Energieversorgung, Nahrungsmittelrohstoffe und Düngemittel sowie die Instrumentalisierung von Migrationsströmen als geopolitische Waffe treten dabei deutlich zutage. In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Zermürbungskrieg bereits in sein drittes Jahr eintritt und kein Ende vor 2025/2026 absehbar ist, ist es von äußerster Wichtigkeit, die Komplexität der strategischen Kalküle Russlands tiefgreifend zu beleuchten.

Russlands Neupositionierung in Europa und der Welt

Im Kontext eines eskalierenden Systemkonflikts versucht Russland, die vorherrschende geopolitische und geoökonomische Rivalität zwischen den USA und China zu seinem Nutzen zu verwerten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Schlüsseldimensionen der russischen Kriegsführung in drei strategische Dimensionen unterteilen:

  1. Ein umfassender Krieg gegen die Ukraine: Russland zielt auf die vollständige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterwerfung der Ukraine ab, mit dem langfristigen Ziel, dies innerhalb von 10 bis 15 Jahren durch schrittweise Zerstörung zu erreichen. Der Aufbau einer russischen (gar nicht mehr sowjetischen) Union, die Weißrussland und die von Russland kontrollierten Teile der Ukraine umfasst, ist Teil dieses langwierigen Plans. Dabei werden die mögliche Stationierung von Atomwaffen und weitere Russifizierungsmaßnahmen auf den ukrainischen Gebieten unter russischer Kontrolle in Betracht gezogen. Sollte eine vollständige Unterwerfung nicht möglich sein, strebt Russland eine Balkanisierung oder Spaltung der Ukraine an, um sie entlang eines neuen Eisernen Vorhangs zwischen der NATO-Ostflanke und den russischen Grenzen zu teilen. Ein Sieg für Russland in dieser Phase der Kriegsführung könnte weitere territoriale Ambitionen in Richtung Odessa und Kiew, gefolgt von Transnistrien (Moldawien), Südossetien und Abchasien (Georgien) sowie langfristig sogar Provokationen gegen das Baltikum (NATO) nach sich ziehen. Daraus erschließt sich, dass es um einen langwierigen revisionistischen und großmachtbezogenen Plan geht, der in mehreren Stufen erfüllt werden könnte.
  2. Unterminierung der europäischen Sicherheitsordnung: Russland beabsichtigt, die EU geopolitisch irrelevant zu machen, indem es die europäische Sicherheitsarchitektur schwächt und in weiterer Folge zerstört. Dies geschieht durch die Lähmung internationaler Institutionen (wie der OSZE), die Aushöhlung europäischer und internationaler Vertragsregimes und das Schaffen bzw. die Förderung eines Sicherheitsvakuums an den europäischen Peripherien. Russland nutzt auch seine Einflussnahme auf politische Kräfte innerhalb der EU, sowohl im rechten als auch im linken politischen Spektrum, um westliche Prinzipien, Normen und Werte zu untergraben, und führt zugleich einen geoökonomischen Krieg durch die Instrumentalisierung von Rohstoffabhängigkeiten als geopolitische Waffe. Nicht zuletzt sollten auch neue Migrationsströme, bedingt durch den lang andauernden Krieg in der Ukraine sowie andere militärische Konflikte (z.B. im Nahen Osten und Afrika), die politische Lage in den EU-Ländern destabilisieren.
  3. Kalter-Krieg-Szenario 2.0 zwischen den USA und dem Drachenbär (Russland und China): Der Krieg gegen die Ukraine markiert den Beginn eines neuen Kalten Kriegs zwischen den USA und der Russland-China-Achse (DrachenBär). Russland positioniert sich als Joker („wild card“), um seinen Einfluss in der systemischen Rivalität zwischen den USA und China zu maximieren. Die strategische Koordination zwischen Russland und China hat sich in Schlüsselbereichen wie Energie, Rohstoffen, Verteidigung sowie in internationalen und regionalen Organisationen, Handel und Wirtschaft als ein Modus vivendi etabliert. Hierbei versucht China aktiv, jede geopolitische Annäherung zwischen Russland und den USA zu unterbinden. Die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen könnten, je nach Wahlausgang im November, die Position Russlands stärken und gleichzeitig die Position Europas weiter schwächen. Darüber hinaus setzt Russland effektiv Informationskampagnen im globalen Süden ein, um die Narrative zu verbreiten, dass die NATO-Osterweiterung als primärer Auslöser des Kriegs anzusehen sei und die westliche Sanktionspolitik als Hauptgrund für die weltweite Hungersnot. Durch diese Strategie zielt Russland darauf ab, die internationale Meinung zu seinen Gunsten zu beeinflussen und die Verantwortung für die Konsequenzen des Kriegs und die daraus resultierenden globalen Krisen von sich zu weisen. Diese Informationskampagnen sind Teil einer umfassenderen hybriden Kriegsführung, die darauf ausgerichtet ist, Spaltungen innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu vertiefen und Unterstützung für die russische Position zu gewinnen. Durch die Fokussierung auf den globalen Süden versucht Russland, die traditionell westlich orientierte internationale Ordnung herauszufordern und gemeinsam mit China eine breitere Koalition von Staaten zu schmieden, die gegen die wahrgenommenen hegemonialen Bestrebungen des Westens Widerstand leisten. 

Szenarien über den russischen Krieg gegen die Ukraine im Jahr 2024

Die drei strategischen Komponenten – westliche Hilfeleistung, Sanktionspolitik und internationale Isolation – spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Szenarien im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Sie bilden einen Rahmen für die Analyse potenzieller Entwicklungen und Trendprojektionen für das Jahr 2024 und darüber hinaus. Die Dynamik dieser Faktoren bietet wichtige Einblicke in die möglichen Richtungen, die der Krieg nehmen könnte.

  1. Westliche Militärhilfe für die Ukraine: Die signifikante Reduzierung der westlichen Militärhilfe im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr, mit einem Rückgang der zugesagten Hilfe von 90 Prozent zwischen August und Oktober 2023 im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2022 stellt eine erhebliche Herausforderung für die Ukraine dar. Die Verzögerungen bei der Lieferung von militärischen Hilfsgütern, die im Vorjahr zugesagt wurden, erschweren die Kriegsvorbereitungen der Ukraine zusätzlich. Währenddessen stützt sich Russland auf schnelle Munitionslieferungen aus Nordkorea und Drohnen aus dem Iran. Obwohl die politischen Eliten in Europa weiterhin die Produktion von Munition und Waffen für die Ukraine unterstützen, hat die quantitative Verringerung der Hilfeleistung einen stark negativen Einfluss auf die ukrainische Gegenoffensive 2023 gehabt. Dies könnte die militärischen Fähigkeiten der Ukraine im Jahr 2024 beeinträchtigen, dem russischen Druck standzuhalten und eigene Gegenoffensiven durchzuführen. Der Mangel an ausreichender finanzieller Unterstützung aus den USA und der fehlende politische Wille europäischer Regierungen, die Munitionsproduktion zu erhöhen und weitere kritische Waffensysteme zu liefern, könnten zu einer Schwächung der ukrainischen Positionen an der Frontlinie 2024 beitragen.
  2. Westliche Sanktionen: Die EU hat mit der Ausarbeitung von 13 Sanktionspaketen und der umfassenden Entkopplung von russischen Rohstoffen einen signifikanten Ansatz gegenüber Russland umgesetzt. Diese westlichen Sanktionen haben die russische Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigt, was dazu führte, dass die Einnahmen aus dem Nicht-Energie-Sektor nunmehr profitabler sind als jene aus den traditionellen Einnahmequellen Öl und Gas. Russlands Fähigkeit, sich durch die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft und den Einsatz einer Schattenflotte zur Bedienung der Nachfrage aus asiatischen Ländern anzupassen, zeigt jedoch, dass das Land resiliente Mechanismen entwickelt hat, um den Effekten der Sanktionen entgegenzuwirken. Obwohl die Sanktionen zweifellos einen Effekt haben, reichen sie allein nicht aus, um Russlands militärische Kapazitäten entscheidend zu untergraben. Die Kriegswirtschaft und die Schattenflotte ermöglichen Russland, weiterhin Einnahmen zu generieren und seine militärischen Operationen zu finanzieren.
  3. Internationale Isolation: Die Versuche, Russland international zu isolieren, stoßen an Grenzen, da das Land weiterhin auf die Unterstützung von Schlüsselakteuren wie China und Indien sowie auf die Kooperation mit Schwellenländern wie der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Brasilien zählen kann. Diese strategischen Partnerschaften mildern die Auswirkungen der Isolation und erlauben es Russland, einige der negativen Konsequenzen der westlichen Sanktionen zu umgehen. Diese Beziehungen sind ein wichtiger Faktor, der es Russland ermöglicht, seine Position trotz der Sanktionen und der Versuche der Isolation durch den Westen aufrechtzuerhalten. 

3 mögliche Hauptkriegsszenarien

Angesichts des aktuellen Kriegs zwischen Russland und der Ukraine und der damit verbundenen Herausforderungen und Unsicherheiten lassen sich drei Hauptkriegsszenarien skizzieren, deren Realisierung von einer Vielzahl unbekannter Variablen abhängt:

  1. Ukrainischer Erfolg durch westliche Unterstützung: In diesem Szenario gelingt es der Ukraine, durch eine ausreichende Zufuhr von schweren Waffensystemen und Munition, die russischen Streitkräfte im Jahr 2024 aus einem großen Teil ihres Territoriums zu verdrängen. Die Verschärfung westlicher Sanktionen könnte in diesem Kontext zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder sogar zu politischen Unruhen innerhalb der Russischen Föderation führen, verstärkt durch die steigende internationale Isolation Russlands und mögliche politische Unruhen und Unzufriedenheit, wie sie nach Prigoschins Meuterei im letzten Jahr und Nawalnys Tod 2024 angedeutet wurden. Internationale Partner erhöhen den Druck auf Russland, um eine rasche Beendigung des Kriegs zu erreichen, angesichts der deutlich spürbaren geoökonomischen Auswirkungen auf die Rohstoffpreise und die globalen Märkte.
  2. Russischer Erfolg im Donbass durch verzögerte westliche Hilfe aufgrund des mangelnden politischen Willens in Europa: Aufgrund unzureichender oder verzögerter Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine könnte eine erfolgreiche Gegenoffensive 2024 ausbleiben, was einen russischen Sieg in der Donbass-Region wahrscheinlicher macht. Dies würde Russland ermöglichen, seine militärischen Anstrengungen südwärts, in Richtung Odessa, zu intensivieren und durch weitere Mobilisierungswellen den Zermürbungskrieg fortzusetzen, bis eine Kriegsmüdigkeit in der Ukraine eintritt.
  3. Eingefrorener Konflikt durch unentschlossene politische Entscheidungen in Europa: Die langsame und zögerliche politische Entscheidungsfindung in Europa könnte dazu führen, dass die Ukraine nur langsam oder kaum schwere Waffensysteme erhält. Hinzu kommt die zögerliche finanzielle Unterstützung der USA aufgrund der politischen Lage vor der Präsidentschaftswahl sowie infolge eines potenziellen Sieges der Republikaner (z.B. Donald Trump). Trotz der umfassenden westlichen Sanktionspolitik bleibt Russland international vernetzt, insbesondere durch Partnerschaften mit Ländern wie China, Indien, der Türkei, dem Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dies könnte die Entstehung eines weiteren „eingefrorenen Konflikts“ begünstigen, was den langfristigen Interessen Russlands entgegenkommen würde.

Angesichts dieses Zusammenspiels von Faktoren könnte sich der Krieg von einem Zermürbungskrieg zu einem eingefrorenen Konflikt entwickeln. Die ersten diplomatischen Gespräche könnten sogar unter den beschriebenen Umständen, vor allem infolge der Wahlergebnisse in Europa und den USA, bereits zwischen 2024 und 2025 stattfinden, was darauf hindeutet, dass der Krieg wahrscheinlich sogar bis 2026 dauern könnte. Diese Szenarien unterstreichen die Komplexität der geopolitischen Lage und die Notwendigkeit für den Westen, eine langfristige Strategie zur Bewältigung und möglichen Beilegung des Kriegs zu entwickeln.

Fazit

Mit Blick auf den zweijährigen Krieg haben die EU-Mitgliedstaaten und -Institutionen eine überwiegend abgestimmte, jedoch teilweise unentschlossene Politik gegenüber der Ukraine verfolgt, wenn man vor allem die militärische Hilfeleistung aus dem vergangenen Jahr in Betracht zieht. In diesem Jahr könnten die politische Unentschlossenheit und der Wechsel der politischen Führung in Europäischen Institutionen und manchen EU-Ländern zur weiteren Kluft im Ansatz gegenüber der Ukraine sowie dem russischen Angriff gegen die Ukraine begünstigen. Ein strategischer Konsens über das endgültige Ziel, das die Ukraine in diesem Krieg verfolgen soll, fehlt nach wie vor. Gemäß ihrer eigenen Definition zielt die Ukraine auf die Wiederherstellung ihrer international anerkannten Grenzen von 1991 ab. Auf der anderen Seite beharrt Russland auf seinen ursprünglich deklarierten Zielen der „Entnazifizierung und Demilitarisierung“ der Ukraine sowie auf der internationalen Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Eingliederung der vier ukrainischen Oblaste in die Russische Föderation. Diese gegensätzlichen Zielsetzungen verdeutlichen die tiefen geopolitischen und geostrategischen Gräben, die den Krieg prägen, und unterstreichen die Komplexität einer aus heutiger Sicht unmöglichen diplomatischen Lösung, die sowohl die Souveränität der Ukraine als auch die sicherheitspolitischen Entwicklungen in der gesamten Region berücksichtigt.

(Bild: vadimrysev/iStock)

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