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Zwei Jahre Zeitenwende – und Österreichs selige Vogel-Strauß-Politik

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Österreichs Sicherheitsstrategie ist zehn Jahre alt – Russland wird darin als „strategischer Partner“ genannt. Aber auch EU-weit herrscht Handlungsbedarf.

Mit dem brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ist in Europa völkerrechtlich nichts mehr, wie es vorher war. Über 10 Millionen Menschen sind seither auf der Flucht. Schnell war die Rede von „Watershed moment“, wie von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen genannt, und von „Zeitenwende“, wie vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnet. Viel mehr als kollektives Kopfschütteln hat die Erkenntnis zur „Zeitenwende“ allerdings oft nicht bewirkt.

Zu diesem Schluss ist man auch bei der 60. Münchner Sicherheitskonferenz (16.–18. Februar 2024) gelangt, die vom Tod des jahrelang inhaftierten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny überschattet war. Abgesehen von breiter Bestürzung und und Sorge über mehrere globale Konfliktherde gleichzeitig bleiben konkrete Maßnahmen in Richtung gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik überschaubar. Und das, obwohl die EU insgesamt im Jahr dreimal so viel für Verteidigung ausgibt wie Russland.

Vor diesem Hintergrund erweist sich das europäische Luftraum-Verteidigungssystem „Sky Shield“ als wichtiges Projekt. Denn während ost- und nordeuropäische Länder, vor allem jene in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland, die massive Gefahr erkannt und ihre Sicherheits- und Verteidigungsstrategie rasch an die neue geopolitische Situation angepasst haben, verharren die meisten mittel- und westeuropäischen Länder im Business-as-usual-Modus, so als ob die Zeit am 23. Februar 2022 – oder sogar vor der russischen Besetzung der Krim 2014 – stehengeblieben wäre. In diesem Sinn war es dringend notwendig, dass sich Österreich Sky Shield anschließt. Schließlich sticht es als Insel der Seligen mit seiner bewährten Vogel-Strauß-Politik in Sachen Energie- und Sicherheitspolitik europaweit besonders negativ hervor.

Kein Plan bei Energie- und Sicherheitspolitik

Als Good-practice-Beispiele haben Länder wie Deutschland und die Tschechische Republik ihre nationale Sicherheitsstrategie teils partizipativ an die neue geopolitische Situation angepasst und die von Russland ausgehende Bedrohung für ganz Europa klar beim Namen genannt. Dagegen glänzt Österreich auch auf europäischem Parkett durch seine vielen Leerstellen. Diese finden sich bei der mit Sicherheitspolitik eng verwobenen Energiepolitik. Und ohne funktionierende Energiesicherheit und Sicherheitspolitik kann es keine liberale Demokratie geben, wie kürzlich von Lukas Sustala und mir erläutert. Obwohl für Dezember 2023 angekündigt, hat die aktuelle Bundesregierung noch immer keine neue nationale Sicherheitsstrategie verlautbart, sodass jene aus dem Jahr 2013 nach wie vor gültig ist. In dieser wird Russland noch als strategischer Partner (sic!) bezeichnet, entgegen jeglicher aktuellen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Realität. Da es diesbezüglich in der Koalitionsregierung noch keine Einigung gibt, geschweige denn einen konkreten Plan zur Diversifizierung von Energiequellen, treten wir hier auf der Stelle. Begleitet wird das alles von einer bisher unvorstellbaren Kostenexplosion und Inflation. Noch dazu hängt über der österreichischen Sicherheitspolitik ein mythenbeladenes Schweigegelübde.

Ehrlicher Dialog dringend notwendig

Mit dem EU-Beitritt 1995 hat sich die österreichische Neutralitätspolitik sowohl de jure als auch de facto geändert, wohingegen der öffentliche Diskurs dazu in einer Endlosschleife kreist. Peter Hilpold, Europa- und Völkerrechtsprofessor an der Universität Innsbruck, benennt in „Unser Auftrag“ 04/2022 fünf Phasen des österreichischen Neutralitätsrechts seit seiner Begründung 1955, die über Indifferenz, Übertreibung, Ende des Ost-West-Konflikts und EWG/EU-Annäherung bis zum Wegfall der traditionellen Grundlagen mit dem EU-Beitritt reichen. Anstatt der Öffentlichkeit ehrlich zu sagen, was laut EU-Recht Beistandspflicht bedeutet, dass nämlich Österreich im Ernstfall Teil einer europäischen Militärunion wäre (im Gegensatz zu Irland ausnahmslos), verharrt man lieber auf das Beschwören des „prominentesten Untoten“ (Namensgebung vom renommierten Politikwissenschafter Anton Pelinka). Wovon Österreich noch profitiert, ist laut Hilpold und weiteren Militärexpert:innen die sogenannte Neutralitätsdividende. Demnach garantieren im etwaigen Krisenfall NATO-Staaten gegenüber Österreich eine uneingeschränkte (asymmetrische) Solidarität, ohne dass Österreich entsprechende Investitionen in die gemeinsame Verteidigung leistet. Wie lange dies anhalten wird, bleibt fraglich, zumal es innerhalb der NATO zusehends turbulenter wird.

Zeit für konkrete europäische Maßnahmen

Für breite Empörung hat kürzlich der mehrfach angeklagte Ex-Präsident und neuerliche US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump mit seiner Androhung gesorgt, nur jenen NATO-Mitgliedstaaten Beistand garantieren zu wollen, die auch verlässlich 2 Prozent ihres BIP für Militärausgaben aufwenden. Das 2-Prozent-Ziel ist zwar gemeinsamer NATO-Beschluss und stärkt auch die NATO in finanzieller Hinsicht. In politischer Hinsicht erweisen sich derartige populistische Hetzattacken aber als innere Gefahr für die Allianz. Nach seiner Rückkehr von der Münchner Sicherheitskonferenz resümierte der Historiker Timothy Snyder bei der Pressekonferenz vom Institut der Wissenschaften vom Menschen (IWM), dass man in Europa gut beraten wäre, vom Schlimmsten – vom Wahlsieg Trumps – auszugehen, um die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die eigene Hand zu nehmen: „In 2024 the Europeans should be practicing to be prepared for that day. The year 2024 should be the year of practice.“ Spätestens jetzt im Superwahljahr ist die Zeitenwende und das Ende der Komfortzone mehrheitlich spürbar. Es ist höchste Zeit für konkrete Strategien und Pläne für eine gemeinsame und damit verstärkt selbstbestimmte Europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

(Bild: Nastco/iStock)

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