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„Darf sie das?!“

Die Kontroverse rund um Österreichs Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz hat nicht nur international für Verwunderung gesorgt; sie spaltet auch die Regierung. Die einen sagen, Umweltministerin Gewessler hätte die Verfassung und Bundesrecht gebrochen, andere sagen, sie habe sich mutig in einen rechtlichen Graubereich vorgewagt. Aber wie ist denn die Rechtslage? Eine Einordnung.

Eigentlich heißt das Renaturierungsgesetz „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Wiederherstellung der Natur“. Es wurde im Rat der Europäischen Union am 17. Juni 2024 mit einer Mehrheit von 20 zu 6 angenommen, unter Enthaltung Belgiens, das bis Ende Juni 2024 die Ratspräsidentschaft innehatte. Im Vorfeld gab es kontroverse Diskussionen in Österreich. Insbesondere vonseiten der ÖVP und des Bauernbundes, aber auch von der FPÖ hieß es immer wieder, die neue Verordnung würde Bauern enteignen und über die nationale Gesetzgebung „drüberfahren“. Allerdings stimmt das so nicht. Die EU hat im Wesentlichen drei Instrumente zur Rechtssetzung: 

  • Verordnungen, 
  • Richtlinien 
  • und Entscheidungen.

Verordnungen sind am stärksten, weil sie nicht erst in nationales Recht umgesetzt werden müssen, sondern direkt in allen Mitgliedstaaten wirksam werden. Allerdings gibt die Renaturierungsverordnung bloß Ziele vor, überlässt es aber der nationalen Gesetzgebung, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Von einem „Drüberfahren“ kann also nicht die Rede sein.

Die Rolle der Bundesländer 

Wie mittlerweile hinlänglich bekannt ist, haben sich die Bundesländer gegen das Renaturierungsgesetz ausgesprochen. Später haben Wien und Kärnten ihre Position aber geändert. Laut Bundes-Verfassungsgesetz (Artikel 23d) verpflichtet eine einheitliche Stellungnahme der Länder den Bund, auch auf EU-Ebene keine Rechtsnormen zu setzen, die ihr widersprechen; es sei denn, aus zwingenden integrations- oder außenpolitischen Gründen. Aber haben die Bundesländer überhaupt eine gültige einheitliche Stellungnahme eingebracht? Hier steht es Gutachten gegen Gutachten. Der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt sagt Ja, die von Leonore Gewessler beauftragen Juristen sagen Nein.

Formal entsteht eine einheitliche Länder-Stellungnahme durch Beschluss der Integrationskonferenz der Länder (IKL). (Siehe: BGBl. Nr. 775/1992) Sie fasst ihre Beschlüsse grundsätzlich in Sitzungen, in dringenden Fällen durch Umfrage. Damit die IKL beschlussfähig ist, müssen alle Ländervertreter rechtzeitig eingeladen und mindestens fünf Bundesländer in der Sitzung vertreten sein. Die Länderstellungnahmen vom November 2022 und Mai 2023, um die es in dem aktuellen Streit geht, wurden aber nicht von der Integrationskonferenz der Länder beschlossen. Gewesslers Gutachter schreiben deshalb, dass es von Anfang an keine rechtsgültige einheitliche Stellungnahme der Länder gegeben habe. Deshalb sei die Ministerin auch nicht verpflichtet, sich daran zu halten. Dagegen führt der Verfassungsdienst Gewohnheitsrecht ins Feld, weil der Bund in der Vergangenheit auch Stellungnahmen der Landeshauptleutekonferenz und der Landesamtsdirektorenkonferenz als verbindlich behandelt habe. Ob diese Auslegungspraxis maßgeblich ist, bleibt aber strittig. Wie so oft in Österreich ist die Lage gemäß „Realverfassung“ nicht eindeutig.

Ziemlich klar, aber eigentlich irrelevant, ist die Frage, ob die IKL ihre Stellungnahme nachträglich anpassen oder ergänzen darf, und wie das zu erfolgen hat. Laut Gesetz braucht es auch dafür einen formellen Beschluss. (BGBl. Nr. 775/1992, Art. 7 Abs. 2) Da es den aber von Anfang an nicht gab, geht dieses Argument ins Leere. 

Selbst wenn es eine gültige Länderstellungnahme gäbe, hätte die grüne Umweltministerin höchst wahrscheinlich so handeln dürfen, wie sie es getan hat. Denn bei der Renaturierungsverordnung scheint es zwingende integrations- oder außenpolitischen Gründe zu geben, die erlauben, dass der Bund sich über eine Länderstellungnahme hinwegsetzt. Hier lassen sich etwa völkerrechtliche Verpflichtungen zum Biodiversitätsschutz wie etwa den Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal, die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung und Österreichs Verpflichtungen nach dem Pariser Klimaschutzabkommen ins Feld führen. Zusätzlich kommen Gründe wie Loyalität im Sinne der redlichen Zusammenarbeit eines Mitgliedstaats mit der Union und die Abwendung eines potenziellen Image-Schadens für die Republik in Betracht. 

Verstoß gegen Bundesministeriengesetz? 

Bleibt noch die Frage, ob Gewessler – wie es die ÖVP behauptet – gegen das Bundesministeriengesetz verstoßen hat. Dort steht sinngemäß: Wenn eine Entscheidung ein Sachgebiet betrifft, das in den Wirkungsbereich eines Bundesministeriums fällt, aber zugleich Sachgebiete eines anderen Ministeriums berührt, das konkrete Maßnahmen setzen muss, dann ist im Einvernehmen vorzugehen. (§5 BMG) Doch was genau mit Einvernehmen gemeint ist, darüber herrscht Uneinigkeit: Laut Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt hätte Gewessler das Einvernehmen mit dem Landwirtschaftsminister herstellen müssen. Gewesslers Gutachter meinen hingegen, dass sie bloß die Pflicht hatte, auf eine vorab koordinierte Position hinzuwirken. Ist eine Einigung nicht möglich ist, dürfe sie frei abstimmen.

Anklagen wegen Amtsmissbrauch

Die ÖVP hat am 20. Juni wie angekündigt eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs gegen Leonore Gewessler eingebracht. Mittlerweile wurde auch gegen Bundeskanzler Nehammer, Europaministerin Edtstadler und ÖVP-Generalsekretär Stocker Anzeige wegen Amtsmissbrauch sowie Verleumdung eingebracht. Amtsmissbrauch liegt vor, wenn ein Beamter seine Befugnis wissentlich und mit dem Vorsatz, dadurch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen, missbraucht. Führenden Strafrechtsexperten zufolge gibt es wenig Aussicht auf eine Verurteilung der Umweltministerin, weil es verschiedene Rechtsmeinungen gibt, und daher nicht die Rede von einem wissentlichen Missbrauch sein könne.

In der Vergangenheit wurde schon öfter gegen österreichische Politiker wegen Amtsmissbrauchs ermittelt. Doch dass sich Koalitionspartner gegenseitig mit Anzeigen eindecken, ist einmalig.

Nichtigkeitsklage gegen den Ratsbeschluss

Die ÖVP plant, den Ratsbeschluss mittels Nichtigkeitsbeschwerde beim Gerichtshof der Europäischen Union nachträglich aufheben zu lassen, um so das Inkrafttreten des Renaturierungsgesetzes zu verhindern. Verfassungsjurist Heinz Mayer gibt dem Vorhaben wenig Aussicht auf Erfolg. Und auch der deutsche Europarechtler Matthias Ruffert ist der Meinung, dass Nehammers berüchtigter Brief an den belgischen Premierminister Alexander de Croo, in dem der Kanzler Gewessler vermeintlich das Abstimmungsrecht entzieht, das gültige Zustandekommen des Ratsbeschlusses nicht verhindern konnte.

Viel Lärm um nichts?

Gesamt betrachtet deutet also vieles darauf hin, dass Leonore Gewessler tatsächlich so handeln durfte, wie sie es getan hat. Briefe an der Ratsvorsitzenden, gegenseitige Klagen und etwaige Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union ändern daran voraussichtlich nichts und fallen eher in die Kategorie Wahlkampf. Dennoch liefert diese Regierung ein Zerrbild von Politik, bei dem es wenig verwundert, wenn sich viele entsetzt abwenden. Es zeigt sich einmal mehr, dass man nicht alles, was man tun darf, auch tun soll. 

Doch wirklich abfeiern lassen für die Renaturierungsverordnung kann sich Gewessler nicht. Schließlich gibt sie ja nur Ziele vor. Österreich muss wie bei den Klimaplänen erarbeiten, wie diese Ziele umgesetzt werden sollen. Als einziges EU-Land ist Österreich derzeit säumig, einen Entwurf zu einem nationalen Energie- und Klimaplan einzureichen. Dass diese Koalitionspartner Pläne zu Renaturierungszielen vorlegen werden, ist nach den vergangenen Wochen sehr unwahrscheinlich geworden. 

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