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Die Chance eines „Bürgergelds“ in Deutschland

Dieter Feierabend
Dieter Feierabend

Die Ampelkoalition in Deutschland hat sich auf ein Bürgergeld geeinigt, das die bisherige "Hartz IV" Regelung ersetzen soll. Worauf sich die Parteien geeinigt haben und wie das Bürgergeld zu bewerten ist. Eine Einordnung. 

Von Dieter Feierabend. 

Es war zwar angesichts des Pandemiemanagements und der Klimakrise nicht das bestimmende Thema des deutschen Wahlkampfs. Doch die Reform von "Hartz IV", also der zusammengelegten Arbeitslosen- und Sozialhilfe in Deutschland, ist ein wichtiges Vorhaben der neuen "Ampelkoalition" aus SPD, FDP und Grünen. Sie alle warben für – durchaus unterschiedliche – Reformen von Hartz IV, und sie reihten sich damit in eine grundsätzliche Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme ein, die durch verstärkte Debatten über Konzepte wie beispielsweise eine negative Einkommenssteuer oder ein bedingungsloses Grundeinkommen global geführt wird.

Eine Reform der bisherigen Grundsicherung war aus verschiedensten Gründen notwendig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Teile der Gesetzgebung, insbesondere Sanktionen, als teilweise verfassungswidrig einzustufen. Die komplexe Struktur führte regelmäßig zu kuriosen Entscheidungen der ausführenden Ämter, beispielsweise wurde in Berlin einem Wohngeldberechtigen die Leistung gekürzt, da er Lebensmittel von der Tafel erhielt. Nicht zuletzt zeigen Studien, dass bestimmte Gruppen wie Kinder und Jugendliche materiell unterversorgt sind.

Worauf haben sich also SPD, Grüne und FDP unter dem Begriff "Bürgergeld" geeinigt?

Eine nähere Betrachtung des Koalitionskapitels zeigt, dass unter dem Bürgergeld effektiv eine Reform des Arbeitslosengeld II - also Hartz IV - zu verstehen ist.Grundsätzlich haben sich die Ampelparteien darauf geeinigt, das ehemalige Arbeitslosengeld II, das Wohngeld und weitere Sozialleistungen zusammenzufassen bzw. aufeinander abzustimmen. Als Leitmotiv des Bürgergeldes ist ein Anreizsystem zu beobachten, von Aus- und Weiterbildung, über den Einstieg in Beschäftigung bis zur nachhaltigen Arbeitsmarktintegration. Die Entwicklung dieses Modells wird durch eine unabhängige Kommission erarbeitet. Inhaltlich fußt die Reform auf vier Schwerpunkten.

  • Entbürokratisierung und Individualisierung

Durch die Einführung von Bagatellgrenzen und einem verbesserten gesetzlichen Rahmen für regionale Angemessenheitsgrenzen soll der Vollzug einfacher und nachvollziehbarer werden. In den ersten beiden Bezugsjahren gibt es keine Anrechnung des Vermögens oder Überprüfung der Wohnsituation. Gerade letzteres führte in der Vergangenheit etwa dazu, dass Personen aus ihrer Wohnung ausziehen mussten, wenn sie um wenige Quadratmeter zu groß war. Ebenso bekommen die regionalen Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit (das deutsche "AMS") mehr Mittel für die individuelle Förderung von Bezieher_innen. Außerdem soll institutionell dafür gesorgt werden, dass neben arbeitslosen Personen auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, die ein Bürgergeld beziehen, durch die Bundesagentur für Arbeit betreut werden. Die Erwerbsfähigkeit soll nur von der Rentenversicherung geprüft werden. Damit wird die gesplitterte Zuständigkeit von Ämtern reduziert und im Idealfall ein One-Stop-Shop Prinzip eingeführt.

  • Nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt

Die Ampelparteien haben sich auf eine "nachhaltige Integration" in den Arbeitsmarkt geeinigt. Dies bedeutet, dass die Mitwirkungspflicht für Bezieher_innen bleibt, es also weiterhin eine Vereinbarung zwischen Amt und Bezieher_innen über Angebote und Maßnahmen gibt. Gleichzeitig fällt der Vermittlungsvorrang, also erstes Ziel ist nicht mehr zwingend die sofortige Vermittlung im Arbeitsmarkt. Dies ist, insbesondere bei Langzeitarbeitslosen oder Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, oftmals kontraproduktiv, entsprechende Angebote, wie beispielsweise des AMS in Österreich zeigen hier Erfolge. Gleichzeitig wird begleitendes Coaching und aufsuchende Sozialarbeit in Zukunft regelmäßig angewendet. Damit die passgenaue Unterstützung in der Praxis funktioniert, wird es auch einen besseren Betreuungsschlüssel in der Bundesagentur für Arbeit geben, etwas das empirisch gesehen zu positiven Effekten bei der Jobvermittlung führt.

  • Kompetenzen und (Weiter-)Bildung

Die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs führt auch dazu, dass mehr Maßnahmen im Bereich der Aus- und Fortbildung möglich sind. So wird künftig ein Kompetenzfeststellungsverfahren die Skills aller Bezieher_innen erfassen und darauf aufbauend Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen gesetzt. Vollqualifizierende Ausbildungen, beispielsweise im IKT-Sektor, werden forciert und Ämter bekommen die Möglichkeit zur Ausbezahlung von Prämien bei erfolgreichem Abschluss. Für Kinder und Jugendliche wird ein Paket geschürt, um deren Bildungsverlauf besser zu unterstützen, ebenso werden gemeinsame Anlaufstellen mit Jungendhilfen geschaffen.

  • Arbeit und Zuverdienstgrenzen

Das neue Bürgergeld setzt viele Anreize, um nicht in Beschäftigungslosigkeit zu verharren. Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent, also das einem der gesamte Verdienst oder mehr abgezogen wird, schaffen die Regierungsparteien ab.  Hierzu werden die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert. Die Anrechnung von Schüler- und Studentenjobs für Jugendliche und junge Erwachsene entfällt, bei Lehrlingen wird der Freibetrag erhöht. Auch für Pensionist_innen und Personen die nicht Vollzeit arbeiten können ("erwerbsgeminderte Personen") wird es mehr Zuverdienstmöglichkeiten geben. Ziel ist es, den Anreiz für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen.

In Summe ist das Bürgergeld eine pragmatische Reform, in der wesentliche Schwachstellen praxisnah überarbeitet werden. Einige der Verwaltungsvereinfachungen wurden während der Pandemie schon erprobt und haben ihre Praxistauglichkeit bewiesen. Gleichzeitig steckt der Teufel im Detail. So ist beispielsweise über die Höhe der Regelsätze, also wie viel Geld ausbezahlt wird, nichts bekannt. Derzeit bekommen alleinstehende Erwachsene 446€ exklusive Wohngeld als Regelsatz. Ebenso ist die Individualisierung der Leistung zu begrüßen, da passgenaue Lösungen für höchst unterschiedliche Anspruchsberechtigte (von Lehrlingen über Teilerwerbsfähige bis hin zu Pensionist_innen) möglich werden. Gleichzeitig ist bei der Ausgestaltung der entsprechenden Leitlinien darauf zu achten, dass die Vollziehung einheitlich gehandhabt wird und die Anzahl an kuriosen Entscheidungen, wie das eingangs erwähnte Beispiel, nicht deutlich ansteigt. Es wartet noch viel Arbeit auf die Ampelparteien und die einzusetzende Kommission.

 

© Titelbild: Visual Stories || Micheile, Unsplash

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