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Europa muss nach Osten schauen

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Europa noch nie so gespalten erschienen: Einerseits führt Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und einen hybriden Krieg gegen Europa. Andererseits machen sich immer mehr Menschen – auch außerhalb der EU – für ein gemeinsames Europa stark, und das unter paradoxen Bedingungen. 

Während der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine unvermindert andauert, erreichen die Militärhilfen der EU- und der NATO-Staaten weiterhin zögerlich die Ukraine. Zudem ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinem NATO-Beitrittsgesuch beim NATO-Gipfel letzten Oktober auf keine Resonanz gestoßen. Unterdessen haben die Europäische Investitionsbank (EIB) und die EU-Kommission im Juni 2024 der Ukraine über eine Milliarde Euro für Wiederaufbau, Wirtschaftshilfen und kritische Infrastruktur zugesagt. Auch sonst steht man im Westen größtenteils hinter der Ukraine. Seit 2022 haben Europa und die USA der Ukraine Hilfen (militärisch, finanziell und humanitär) im Ausmaß von rund 200 Milliarden Euro zukommen lassen. Weitere rund 90 Milliarden Euro wurden aber auch schon versprochen, zeigt der Ukraine Support Tracker des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Dieses verdeutlicht außerdem anhand von aktuellen Daten aus Deutschland, wie teuer ein Ende der Ukraine-Hilfe eigentlich wäre. 

Internationale Haftbefehle gegen russische Führung

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat im März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wie auch gegen dessen Kinderrechtskommissarin Maria Lwowa-Belowa erlassen und Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen, darunter die Entführung von 16.000 ukrainischen Minderjährigen nach Russland. Dafür hat der eigentlich in Den Haag stationierte Gerichtshof ein zusätzliches Büro in Kiew eingerichtet. Die Ukraine selbst ist kürzlich den Statuten dieses Gerichtshofs beigetreten.

Im Unterschied zum allgemein anerkannten Internationalen Gerichtshof der UN (IGH) richtet sich der IStGH gegen Personen und nicht gegen Staaten. Dass Putin verhaftet wird, klingt derzeit noch wie Zukunftsmusik. Mit Blick auf die Auslieferung des ehemaligen serbischen (BR-jugoslawischen) Machthabers und Kriegstreibers Slobodan Milošević nach Den Haag im Jahr 2001 erscheint es nicht völlig abwegig, vorausgesetzt eine liberaldemokratische Regierung folgt der bisher autokratischen. Nicht nur in diesem Fall könnten die Westbalkanstaaten ein Lehrstück bieten.

Der „Berlin-Prozess“ im „ewigen EU-Warteraum“

Wurde noch der Berlin-Prozess im Jahr 2014, also ein Jahr nach dem EU-Beitritt Kroatiens 2013, von der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Leben gerufen, um den sechs Westbalkanländern (WB 6) Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Kosovo eine konkrete EU-Perspektive zu geben und deren EU-Beitritt anzukurbeln, so scheint der Berlin-Prozess jetzt zehn Jahre später unter der deutschen Ampel-Koalition aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Schließlich hat sich in Sachen EU-Erweiterung sehr wenig getan, außer dass die geopolitische Situation eine völlig andere ist, indem sich Europa mehr oder weniger feindlich gesinnten globalen Akteuren wie vor allem Russland und China gegenübersieht. Diese trachten mehr oder weniger aggressiv, die Westbalkanländer an sich zu binden, sei es durch finanzielle, ressourcen- und energiepolitische Abhängigkeiten, sei es durch die Unterwanderung der öffentlichen Meinung mittels Desinformation, Fake News und Propaganda.

Endlich weitere EU-Beitrittsverhandlungen

Als wichtige Maßnahme kann gewertet werden, dass letzten Oktober mit Albanien das erste Verhandlungskapitel zum EU-Beitritt eröffnet wurde. Somit laufen jetzt mehr oder weniger erfolgreiche EU-Beitrittsverhandlungen mit vier der sechs Westbalkanländer. Kosovo und vor allem Nordmazedonien im Beitrittsprozess zurückzulassen, ist jedoch als Signal mindestens so negativ wie die Absage an die Aufnahme der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien im Jahr 2018 und nochmals 2019. Dass nicht alle in der EU die staatliche Unabhängigkeit Kosovos anerkennen, dürfte den wieder angeheizten Konflikt zwischen den Führungen in Belgrad und Priština auch nicht gerade besänftigen. Denn jeder Rückschritt in Sachen EU-Annäherung und Erweiterung gibt EU-feindlichen Kräften im Inneren wie im Äußeren Auftrieb.

Mehr als nur finanzielle Hilfe gefragt

Dass die Ukraine für Wiederaufbau und Infrastruktur seitens EIB und EU-Kommission milliardenschwere Hilfe bekommt, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Dabei allein darf es jedoch nicht bleiben. So stehen die IPA Funds den Westbalkanländern seit deren jeweiligem EU-Kandidatenstatus zur Verfügung. Auf diese Weise konnten bereits wichtige Infrastrukturprojekte in allen Westbalkanländern realisiert werden. Schließlich ist die EU nach wie vor der wichtigste Förderer und Investor in dieser Region, auch wenn das vor Ort scheinbar negiert und stattdessen betont wird, wie gut die Beziehungen zu Russland und China seien.

Die Lehren aus diesen Ländern sollten dabei helfen, das europäische Projekt neu zu beleben und die Ukraine nicht in die gleiche Falle tappen zu lassen. Wie schnell sich die proeuropäische Ausrichtung eines Landes mit einer antidemokratischen, nationalistischen Regierung in ihr Gegenteil verkehren lässt, zeigen inzwischen gleichermaßen EU-Kandidaten- und EU-Mitgliedsländer. Das heißt für proeuropäische Kräfte innerhalb der EU, Gleichgesinnten außerhalb der EU die Hand auszustrecken und verstärkt proeuropäische Netzwerke zu knüpfen, auch unter Einbindung der Zivilgesellschaft. Auf diese scheint man bei der EU-Erweiterung oft vergessen zu haben, wovon in erster Linie Stabilokraten wie Aleksandar Vučić profitieren, die kein ehrliches Interesse am EU-Beitritt haben.

Realistische EU-Perspektive dringend notwendig

Tobt nun nach den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre der nächste brutale Krieg in Europa, macht sich die proeuropäische Zivilgesellschaft gegen russische Infiltrierung im eigenen Land und für eine stärkere Annäherung an die EU stark. In der Republik Moldau erhielt das kürzliche Referendum zu einem in der Verfassung verankerten möglichen EU-Beitritt nur eine knappe Mehrheit. Genauso knapp konnte sich hier bei der Stichwahl zu den Präsidentschaftswahlen die proeuropäische Amtsinhaberin Maja Sandu durchsetzen.

Nachdem in Georgien eine Woche vor der Parlamentswahl tausende Menschen gegen prorussische Propaganda protestiert hatten, rief die proeuropäische georgische Präsidentin Salome Surabischwili zu weiteren Demonstrationen auf, und zwar gegen mögliche Wahlmanipulationen des prorussischen Wahlsiegers, der nationalkonservativen Partei Georgischer Traum mit guten Verbindungen zum ungarischen Premier Viktor Orbán. Mittlerweile wurden hier Anklagen wegen des möglichen Wahlbetrugs eingeleitet. Haben neuerliche Stimmenauszählungen den Wahlsieg der prorussischen Regierung zwar bestätigt, fordert die Opposition dennoch Neuwahlen, zumal auch internationale Bobachter:innen Unregelmäßigkeiten festgestellt haben.

In Belarus kann die proeuropäische Opposition derzeit ausschließlich im Exil gegen den Autokraten und Putin-Verbündeten Alexander Lukaschenko vorgehen. Auch Julia Nawalnaja, die im Exil lebende Witwe des im Straflager de facto ermordeten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, plant nach eigenen Angaben bei zukünftigen freien Präsidentschaftswahlen in Russland gegen Putin anzutreten und zu gewinnen.

Window of opportunity: jetzt

All das darf nicht ignoriert werden. Schließlich kämpfen in diesen Ländern Menschen der proeuropäischen, zumeist oppositionellen und sogar inhaftierten Zivilgesellschaft gegen brutale Repressionen autokratischer Machteliten an, die wiederum Teil von Putins hybrider Kriegsführung sind. Und diese hat auch schon längst in EU-Mitgliedsländer Einzug genommen, und zwar mittels Desinformationskampagnen und der Finanzierung antidemokratischer, populistischer Parteien des linken und vor allem rechten Rands in Europa.

Anders als zu Zeiten der EUropaeuphorie der 2000er Jahre erweisen sich sämtliche antidemokratische Bedrohungen für Europa im Superwahljahr 2024 als „Window of opportunity“. Dieses Zeitfenster, die liberale Demokratie und das gemeinsame Europa vor dem Hintergrund gefährlicher autokratischer Bedrohungen zu stärken, darf man jetzt auf keinen Fall versäumen.

(Bild: Artem Bragin/iStock)

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