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European Spirit – wichtiger denn je

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Den Abschluss unseres NEOS Lab Talentboards (des modularen Ausbildungsprogramms für High Potentials) bildete Ende Juni 2023 unser gemeinsamer Study Trip nach Brüssel. Wir gewannen – ungefähr ein Jahr vor den Europawahlen 2024 – spannende Einblicke in die Arbeit von EU-Institutionen und was „die Hauptstadt“ gerade bewegt. Eines war angesichts der Themenlage klar: Es braucht viel European Spirit auf allen Ebenen.

Brüssel ist immer eine Reise wert. Als wir heuer mit den Teilnehmer:innen des NEOS Lab Talentboard in Europas Hauptstadt gekommen waren, standen wir allerdings alle unter dem Eindruck eines volatilen Wochenendes, an dem es kurzfristig nicht ausgemacht schien, ob nicht ein russischer Bürgerkrieg beginnen könnte. Was in Moskau passiert, ist insofern relevant, als die Themen Energie, Sicherheit und Desinformation bei den Besuchen von Kommission, NATO sowie Parlament oft genug im Zentrum standen. 

In der Europäischen Kommission ging es auch um zwei Themen, die wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder wichtiger geworden sind: Nachbarschaftspolitik und Erweiterungspolitik. Marc Ibanez Diaz, Policy Officer bei DG NEAR (Generaldirektion Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen) betonte in seinem Vortrag, dass die Beitrittskriterien zwar seit der großen Erweiterungswelle 2004 (mit zehn neuen EU-Mitgliedern) und 2007 (mit zwei) deutlich strikter geworden sind, dass aber nach Jahren der Erweiterungsmüdigkeit bzw. „Enlargement Fatigue“ wieder die Notwendigkeit eines gemeinsamen Europas in den Vordergrund gerückt ist. Und das fast zehn Jahre nach dem bisher letzten EU-Beitritt 2013. Diese Sogwirkung spüren auch die Nachbarschaftsländer, zu denen, auch kriegsbedingt, das EU-Parlament und die Kommission wieder intensivere Kontakte pflegen. Umgekehrt ist der Wunsch nach einem EU-Beitritt in Ländern wie Georgien und der Republik Moldau, aber auch der Ukraine unverkennbar. Galt fast zehn Jahre lang das Motto, zuerst die EU nach innen zu integrieren, sprich zu stärken und erst dann neue Mitgliedsländer aufzunehmen, und zwar unter dem Eindruck stark steigender Xenophobie und Rechtspopulismen, so ist man mittlerweile zum Credo der Gleichzeitigkeit übergegangen: integrieren im Inneren und erweitern nach außen. Der jahrelange geopolitische Einfluss Chinas auf den Westbalkan und spätestens der Ukraine-Krieg haben eine veränderte EU-Policy notwendig gemacht, nämlich beide Bereiche nicht mehr zu trennen, sondern als Teile eines Ganzen, nämlich eines vereinten Europas voranzutreiben.

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Beim Vortrag zum Thema Fake News und Desinformation von Mirjam Dondi

„Every EU visitor is an ambassador“

Die Vision und Mission eines gemeinsamen Europas steht auch im Tätigkeitsbereich von Mirjam Dondi an oberster Stelle. Als Seconded National Expert und Information and Communication Officer in der Generaldirektion Kommunikation tritt Dondi mit ihrem Team tagtäglich gegen die Verbreitung von Desinformation und Fake News an: „Desinformation war noch nie so gefährlich“, so ihre Schlussfolgerung mit Hinweis auf Deep Fake und „Doppelgänger Domains“. Obwohl sich die Umsetzung von Gegenmaßnahmen auf EU-Ebene wie ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt, kann es Dondis Ansicht nach nur gemeinsame europäische Antworten darauf geben, nämlich intensive Informations-, Bildungs- und Netzwerkarbeit wie auch ein Hochhalten des European Spirit. So erlebt Dondi es nicht selten, dass sogar österreichische Politiker:innen von der Arbeit auf EU-Ebene zutiefst beeindruckt sind. Daher sind Besuche wie unserer so wichtig, weil ja jede:r Besucher:in von diesem so schönen Europagefühl angesteckt und mitgerissen wird und das damit entfachte Feuer zu Hause weitergibt. Und genau das macht Europa aus: in Vielfalt vereint zu sein.

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Gruppenfoto mit Michael Karnitschnig, Direktor für Außenbeziehungen im Generalsekretariat der Europäischen Union, und Felix Mittermayer, International Officer für NEOS in Brüssel

Europäische Resilienz

Ist einmal das Commitment zum gemeinsamen Europa da, können einprasselnde Gefahren und aufkommende Krisen auch viel weniger Schaden anrichten. So hat die Gasreduktion bzw. Unterbindung von Gaslieferungen aus Russland – entgegen aller Befürchtungen – zu keinem kompletten Stillstand der europäischen Industrie oder zum Kältetod von Menschen geführt, wie Michael Karnitschnig, Direktor für Außenbeziehungen im Generalsekretariat der Europäischen Union, ausführte. Im Gegenteil, binnen kürzester Zeit einigten sich die europäischen Entscheidungsträger:innen auf erforderliche Gegenmaßnahmen zur raschen Umsetzung. Bei der Verhängung von Sanktionen, so Karnitschnig weiter, ging und geht es nach wie vor darum, die jeweilige Kosten-Nutzen-Rechnung abzuwägen, nämlich eine maximale Auswirkung auf die russische Wirtschaft und minimale Rückwirkung für die europäische Seite zu erreichen. Daher muss auch immer eine entsprechende Planungsfrist für betroffene europäische Unternehmen und Banken eingeplant werden, um möglichst schadenfrei aus der russischen Wirtschaft auszusteigen, wie im Fall RBI (Raiffeisen Bank International). Das gesamte Vermögen in einem Land aufzubauen betrachtete Karnitschnig, nebenbei bemerkt, nicht als besonders nachhaltig bzw. weitsichtig. Ähnlich beurteilte er das häufige Verhalten von österreichischen Politiker:innen, im Europäischen Rat bei wichtigen europäischen Vorhaben (wie u.a. den Sanktionen) mitzustimmen und danach zu Hause die Verantwortung auf „die EU“ zu schieben. Obwohl „die EU“ eigentlich wir alle sind.

Außerdem habe die mittlerweile vielzitierte Zeitenwende nicht erst mit dem brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, sondern bereits viel früher begonnen. Beispielhaft dafür nannte er die aktuellen Errungenschaften sowie Risiken künstlicher Intelligenz, imperialistische Bestrebungen Russlands seit Beginn von Wladimir Putins erster Präsidentschaft 2000, den Staats- und damit geopolitischen Richtungswechsel in China und vieles mehr, was gerade die Weltordnung massiv umstellt, ganz zu schweigen von den Sanktionen gegen das System Putin und die aktuelle Energieversorgungskrise.

Dass die EU, so Karnitschnig, bisher gestärkt aus allen Krisen hervorgegangen ist, bietet allerdings keine Garantie für die Zukunft. Sorgen bereiten der EU neben dem voraussichtlich noch länger anhaltenden Ukraine-Krieg auch Rechts- sowie Linkspopulismen, was bei den Europawahlen nächstes Jahr schlagend werden wird. Transparenz und Nachvollziehbarkeit bei politischen Entscheidungen und Implementierungen stehen daher an erster Stelle.

Expert:innen-Gespräche

Wie wichtig unmittelbare Erfahrungen mit Organen der EU sind, wurde bei einem gemeinsamen Abendessen und Expert:innen-Gespräch mit Mirjam Dondi sowie Felix Mittermayer, International Officer für NEOS in Brüssel, diskutiert. Schließlich soll es mehr sein, als die EU nur über unterschiedliche Regelungen ganz abstrakt wahrzunehmen, sondern Europa in seiner Vielfalt u.a. durch persönliche Netzwerke und Reisen zu spüren und zu erleben. Ein Blick hinter die Kulissen genauso wie Gespräche mit Macher:innen auf allen Ebenen macht das gemeinsame Europa zum Greifen nah. Österreich gehört übrigens zu den besonders europaskeptischen Ländern. Da gibt es also viel zu tun, auch im Hinblick auf die bevorstehenden Europa- und Nationalratswahlen.

Österreichische Vertretung in Brüssel

Zu den zahlreichen Akteur:innen in Brüssel, die zwar nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, jedoch viel in Sachen Expertise, Vermittlung und Vernetzung leisten, gehört die Ständige Vertretung Österreichs bei der EU. Wie alle anderen Vertretungen der Mitgliedstaaten ist sie dem Europäischen Rat unterstellt und Teil des Trilogs mit Europäischer Kommission und Europäischem Parlament. Neben Energiepolitik bildet auch die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) einen wichtigen Schwerpunkt, zumal 30 Prozent des EU-Budgets hier hineinfließen, wie Agnes Koreska vom Besuchs- und Informationsdienst betonte.

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Im Foyer der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU

Wie aufregend der Bereich EU-Energiepolitik sein kann, verdeutlichte unser Gespräch mit René Neuberger vom Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie – wenn nämlich Vertreter:innen des Europäischen Rats in letzter Sekunde ihre Meinung ändern, wie im Fall der Regelung zum Ende des Verbrennungsmotors. Hinsichtlich der europaweit notwendigen Gasreduktion betonte Neuberger, dass der Rat unter Tschechiens Präsidentschaft in zwei Wochen Notverordnungen „durchgeboxt“ hatte und so zumindest auf europäischer Ebene die Abhängigkeit von russischem Gas reduziert werden konnte. Große Hoffnungen setzte Neuberger in die kürzlich beschlossene EU-Energieplattform zum gemeinsam geregelten Gaseinkauf und -verkauf ebenso wie in Marktkorrekturmechanismen zur Festlegung von Preisen beim Gaseinkauf. Angesichts bestehender Prognosen, dass spätestens im Dezember 2024 kein russisches Gas mehr zu den noch bestehenden Kunden wie Österreich, das zu 70 Prozent vom russischen Gas abhängig ist, fließen wird, erscheinen europaweite Regelungen derzeit als der einzige sinnvolle Weg, und das nicht nur im Kontext des Ukraine-Kriegs.

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In der Partnerschaft für Frieden

Seitens der Österreichischen Mission bei der NATO hatte man zwar die Ereignisse rund um Jewgeni Prigoschins kurzweiligen Aufstand und den abgebrochenen Marsch der Wagner-Truppe in Richtung Moskau beobachtet, konnte jedoch knapp danach keine umfassende Einschätzung dieser Ad-hoc-Aktion abgeben. Die Vortragenden stimmten darin überein, dass Präsident Putin aus diesen innenpolitischen Tendenzen außenpolitisch und militärisch geschwächt herausgegangen war. Beruhigung ist gegenüber der Atommacht Russland bei weitem nicht angesagt, zumal Putins Widersacher noch irrationaler und umberechenbarer zu sein scheinen, und eine Bombendetonation in Zagreb im März sowie ein Raketeneinsturz im nordpolnischen Dorf Zamość im April letzten Jahres nach wie vor nicht aufgeklärt sind.

Unter derartigen Vorzeichen scheint es sinnvoll, den Unterschied zwischen kollektiver Verteidigung und kollektiver Sicherheit nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Während sich das Erstgenannte auf den Angriff von außen (Krieg) bezieht, meint das Zweitgenannte die Abwehr von Aggression im Inneren. In diesem Sinn stellt die EU die Sicherheit her, während die NATO Europa verteidigt. Beide Organisationen fordern die Beistandspflicht, die allerdings unterschiedlich ausgeformt ist. Während die Beistandspflicht unter NATO-Mitgliedern gemäß Artikel 5 nach eigenem Ermessen erfolgt, fordert die EU eine Beistandspflicht nach allen dem Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Mitteln. Eine derartige Gewichtung wird im öffentlichen Diskurs in Österreich kaum thematisiert. Nicht nur deswegen sprachen sich beide für eine offene Diskussion über die österreichische Neutralität aus. Schließlich genehmigte das BMEIA seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 – von der Öffentlichkeit sichtlich unbemerkt – 4.500 Militärtransporte durch Österreich in Richtung Ukraine. Zugleich wird Österreich im Rahmen der Partnerschaft für Frieden (PfP) für sein Know-how in Sachen Entminung hochgeschätzt. Angesprochen auf eine mögliche NATO-Mitgliedschaft beteuerten die Vortragenden, dass Österreich weder die dafür notwendige Ausstattung noch ausreichend Fachpersonal hätte. Außerdem räumten beide mit dem Irrglauben auf, dass die Neutralität vor einem Angriff schützen würde. Im Gegenteil, Österreich bleiben aufgrund seines Status viele Informationen vorenthalten. In diesem Sinn plädierten beide dafür, Sicherheit und Verteidigung in Europa von einer verstärkt europäischen Sichtweise zu betrachten. Dass die österreichische Regierung seit Neuestem dem europäischen Luftraum-Verteidigungssystem „Sky Shield“ beitreten will, kann vor diesem Hintergrund und angesichts der genannten „Blindläufer“ in Polen und Kroatien als kluge Entscheidung gewertet werden.

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Europäischer Parlamentarismus

Um die Entstehung und Geschichte der Europäischen Union kurzweilig zu durchlaufen, empfiehlt sich ein Besuch im Parlamentarium. Beginnend bei den Schrecken des Zweiten Weltkriegs kann man in diesem teils interaktiv gestalteten Museum die Schaffung der Kohle- und Stahlunion bis zum heutigen europäischen Parlamentarismus nachverfolgen. Auch in einen nachempfundenen Plenarsaal kann man sich setzen und die offensichtlich langwierigen Gesetzesverhandlungen nachempfinden.

Der echte Plenarsaal befindet sich gleich vis à vis im Europäischen Parlament, erreichbar über den Besucher:innen-Eingang, vorausgesetzt, dass man vorangemeldet und zusätzlich von einem MEP eingeladen ist. Claudia Gamon, Europaabgeordnete der NEOS, gewährte beim gemeinsamen Austausch spannende Einblicke in den europäischen Parlamentarismus: „Hier lernt man Parlamentarismus von der Pike auf, nicht so wie im österreichischen Nationalrat.“ Denn letztlich gehe es stets darum zu verhandeln, Mehrheiten zu finden, Kompromisse zu schließen und Gesetze zu beschließen, und das ohne Klubzwang. Die Ausrichtung der NEOS verortete sie innerhalb der liberalen ALDE-Familie („Allianz der Liberalen und Demokraten“) in der Mitte und verwies auf die wachsende Bedeutung liberaler Parteien in Südosteuropa.

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Der Plenarsaal des europäischen Parlaments in Brüssel

Aussicht auf die bevorstehenden Europawahlen

Aufgrund der nationalen Unterschiede gebe es auch angesichts der bevorstehenden Europawahlen 2024 kein gemeinsames Narrativ, weil auch die jeweiligen Schwerpunkte stets länderspezifisch seien. Ein Grund mehr für NEOS, transnationale Parteien und Politiker:innen zu fordern. Bis zur etwaigen Umsetzung in Zukunft werden nächstes Jahr wie bisher die bestehenden europäischen Fraktionen länderbezogen um die Wähler:innengunst buhlen. Gemäß aktueller Umfragen werden, so Gamon, alle Fraktionen – außer den rechtskonservativen und weit rechts stehenden Parteien – leichte Verluste einfahren. Damit werde es noch schwieriger, den Cordon sanitaire um derartige europafeindliche Parteien aufrechtzuerhalten und deren europazersetzende Einflüsse in Schach zu halten. Hinzu kommen die aufsteigenden ultralinken Parteien, die sich in ihren Putin-Sympathien, Verschwörungstheorien und der Leugnung der Klimakrise kaum von den Ultrarechten unterscheiden. Welche Themen das Agendasetting und die darauffolgenden öffentlichen Diskurse dominieren werden, ob verstärkt paranoide oder doch angstfreie Haltungen die Oberhand gewinnen werden, bleibt folglich spannend.

Die insgesamt 18 Teilnehmer:innen aus Talentboard und NEOS Lab konnten bei dieser Studienreise viel an Expertise, Know-how und Erfahrung mitnehmen und zusätzlich die eine oder andere belgische Schokolade verkosten.

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