Putin und der „Größte Geopolitische Unsinn seit dem Kalten Krieg“

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Während im Nationalrat eine Sondersitzung zu ein Jahr Ukraine-Krieg und zur Neutralität Österreichs tagte, folgte Prof. Heinz Gärtner der Einladung ins NEOS Lab zum Let’s Talk@Lunch über ein Jahr Ukraine-Krieg, um mögliche Friedens- und Kriegsszenarien und über Europas sicherheitspolitische Zukunft zu sprechen.

Die gesamte Aufzeichnung des Let's Talk @Lunch:

poster

Putin habe mit dem Beginn des brutalen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 „den größten geopolitischen Unsinn seit dem kalten Krieg“ zu verantworten. Prof. Heinz Gärtner, Politikwissenschafter und Geopolitik-Experte, war anlässlich des Jahrestags dieser folgenschweren Entscheidung im NEOS Lab und skizzierte dabei seine Sicht auf die von Putin mit ausgelöste „Zeitenwende“. Dass der russische Präsident dabei einer massiven Fehleinschätzung folgte, zeige sich auch an folgenden Tatsachen: „Er wollte weniger NATO, hat aber mehr Nato bekommen. Er wollte den schnellen militärischen Erfolg, war aber militärisch nicht vorbereitet.“ Als Konsequenz werde „Russland aus jeder Großmachtkonkurrenz herausfallen und ein drittrangiges Land“ in der globalen Sicherheitsarchitektur werden.  

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr sprach der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz umgehend von einer „Zeitenwende“. Dabei geht es vor allem um die Erhöhung der Militärbudgets. Doch die sieht der Vorsitzende des Beirats des International Institute for Peace (IIP) kritisch. Denn Russland habe mit dem Angriff auf die Ukraine bewiesen, dass es nicht wirklich in der Lage sei, einen konventionellen Krieg zu gewinnen. „Ich glaube nicht, dass der Rest Europas direkt gefährdet ist, da Russland die Kapazitäten nicht hat.“ 

Außerdem dürfe man nicht den Fehler machen, die Zeitenwende im Sinne Putins zu verstehen. Der russische Präsident habe Krieg und Blockteilung wieder nach Europa gebracht. Die EU solle sich weigern, diese Realität zur neuen Norm zu machen und keinen neuen Eisernen Vorhang bzw. Cordon Sanitaire als gegeben zu akzeptieren. 

Ein neuer Eiserner Vorhang ist eines von mehreren Szenarien, wie der Krieg enden könnte: eine Teilung Europas von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, entlang der Linien, wo aktuell die Armeen stehen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Russland sich in Richtung Nordkorea entwickelt, politisch isoliert, aber mit Atomwaffen ausgestattet: „Schon jetzt ist Russland international isoliert“, so Gärtner.  Ein wirtschaftlich und diplomatisch schwaches Russland wäre aber nach dem Krieg auch eine Gefahr für Europa. 

Erstes Opfer: Die Diplomatie 

Angesichts dieser wenig optimistischen Szenarien stellt sich die Frage, wie Europa, und speziell Österreich, damit umgehen soll. 

Der Krieg hätte verhindert werden können, wenn die Ukraine sich schon 2014, nach der Krim-Besetzung, als neutral erklärt hätte, wiederholte Gärtner eine These, die er schon damals vertreten hatte. Die EU hätte diese Initiative unterstützen sollen. Das erste Opfer dieses Krieges war jedoch die Diplomatie. Kommt es aber nicht zu Verhandlungen, wird der Krieg auf dem Schlachtfeld entschieden; dort wiederum herrscht ein Status quo, der sich kaum mehr verändern wird und noch zehn Jahre oder mehr andauern kann. So stellt sich dieser Abnützungskrieg als eine der größten Fehlentscheidungen seit 1945 heraus. Diese Situation konfrontiert nun auch Österreich mit neuen sicherheitspolitischen Fragen, die offen diskutiert werden müssen.

Neutralität braucht Diskussion 

Und wie sieht die Debatte in Österreich aus? NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger bezeichnete die Neutralität wie sie aktuell von der Regierung aufgefasst wird, als „Nostalgie wie Lipizzaner oder Mozartkugeln“. Ehemalige Militärs, Politiker:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft haben in zwei offenen Briefen eine ernsthafte Diskussion über Österreichs zukünftige Sicherheitspolitik gefordert. Doch bisher wurden Debatten stets mit dem Hinweis darauf wieder abgedreht, dass die Neutralität für unsere aktuelle Sicherheit verantwortlich sei. Die Welt hat sich seit den 1970er Jahren allerdings verändert, und es reicht nicht mehr, sich aus Konflikten heraushalten zu wollen. Neutralität, so Gärtner, müsse auch in Friedenszeiten glaubwürdig sein. Glaubwürdig zu vermitteln, dass man etwa selbst für seine Sicherheit sorgen kann.

Während in der Schweiz eine permanente Debatte darüber stattfindet, wie die eigene Neutralität gelebt werden soll, fehlt diese in Österreich, ebenso wie diplomatisches Engagement. „Neutralität braucht die Diskussion,“ sagt Gärtner, der für eine „engagierte“ statt einer isolationistischen Form der Neutralität eintritt.

Wie geht es weiter? 

Zu Fragen, wie sich die Situation in der Ukraine weiterentwickeln wird und was das für die geo- und sicherheitspolitische Lage in Österreich und Europa bedeutet, werden wir im Lab noch weiterhin Raum für Diskussionen schaffen. Fortsetzung folgt. 

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