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Weckruf war gestern, Europa muss endlich aufstehen

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Auf die zweite Präsidentschaft von Donald J. Trump ist Europa besser vorbereitet, doch bei den Investitionen in die Resilienz der europäischen Institutionen ist noch viel Luft nach oben. Insbesondere Berlin zählt zu den Hauptstädten, die die Dringlichkeit massiv unterschätzt haben. Was muss Europa auf dem Schirm haben, um „Trump-proof“, also Trump-sicher, zu werden?

Eine kurze Analyse von Silvia Nadjivan und Lukas Sustala.

Europa klingeln die Ohren. Seit dem 5. November gibt es kaum eine:n Kommentator:in, der:die nicht den „Weckruf“ als Bild bemüht hat. Die Wiederwahl von Donald J. Trump, so das Bild, lasse in den europäischen Hauptstädten alle Alarmglocken schrillen. Denn Trumps Ankündigungen zu Freihandel, Multilateralismus oder die Unterstützung der Ukraine waren zwar stets verstörend, doch so wirklich wollte sich kaum ein:e Regierungschef:in in Europa bei den eigenen Machtspielen dadurch stören lassen. Bei notwendigen institutionellen Reformen gab man in Europa bis zuletzt kaum bestehendem Zeitdruck nach, angefangen vom veralteten Einstimmigkeitsprinzip bis zur stockenden EU-Erweiterung. Nun fordern auch die Spitzen von Deutschland und Frankreich, man müsse europäisch und gemeinsam auf die US-Wahl reagieren

Keine Zeit für Schockstarre 

Der Economist schreibt wie viele andere zuletzt „Europa muss aufwachen und endlich auf sich selbst achten.“ Auf sich selber schauen heißt in diesem Fall, dass Europa sich sicherheitspolitisch unabhängig aufstellt und auf globale Unsicherheiten vorbereitet. Angesichts einer potenziellen Verschiebung in der US-Außenpolitik müsse die EU eine eigenständige Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie entwickeln. Dazu gehören erhöhte Verteidigungsausgaben, vertiefte Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten und eine klare strategische Ausrichtung. Europa könne seine Sicherheit und Stabilität nur dann langfristig sichern, wenn es seine Abhängigkeit von den USA verringere und als vereinte Kraft auftrete. 

Zum Wahlsieg selbst ist natürlich auch viel zu sagen – und wir werden uns den Lehren dieses politischen Wahlkampfs auch noch widmen. Von den vielen Analysen scheint jene von Fareed Zakaria durchaus treffend zu sein:

Doch hier geht es zunächst einmal darum: „Der Wahlsieg von Donald Trump muss ein Weckruf für Europa sein – für mehr Selbstbewusstsein in Sicherheits- wie Wirtschaftsfragen.“ In ihrem Kommentar für die Tageszeitung Der Standard betont auch Beate Meinl-Reisinger, Vorsitzende der NEOS, die Notwendigkeit eines selbstbewussteren Europas angesichts der Wiederwahl Donald Trumps. Sie argumentiert, dass Europa seine Abhängigkeit von den USA reduzieren und eigenständige Strategien in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen entwickeln sollte.  

Im Folgenden wollen wir nun die 7 zentralen Herausforderungen aus der Wiederwahl von Donald J. Trump skizzieren: 

Das Ende des Multilateralismus: Freihandel und WTO in Gefahr 

Trumps Rückkehr ins Oval Office wird eine Renaissance der „America First“-Politik einleiten, was sich nachteilig auf den Welthandel und die Stellung der Welthandelsorganisation (WTO) auswirken wird. Zwar war auch die Administration von Joseph Biden kein Sammelbecken für Freihandel-Bewegte. Doch Biden hat das Thema von Zöllen definitiv zur Chefsache gemacht, wenngleich der Inflation Reduction Act gegenüber Europa als Angriff im Standortwettbewerb aufgefasst werden müsste.   

Multilateral ausgehandelte Handelsabkommen wären allerdings im Falle einer neuerlichen Trump-Präsidentschaft grundlegend gefährdet, und die USA könnten so Druck auf europäische Exporte ausüben. Dies würde nicht nur die wirtschaftliche Stabilität Europas, sondern auch die Attraktivität der EU als Handelsblock infrage stellen. 

Tatsächlich zeigt eine erste Studie von WIFO und dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel, dass für Europa wirtschaftspolitisch viel auf dem Spiel steht, wenn es einen neuen Handelskrieg mit Zöllen, Vergeltungsmaßnahmen und im schlimmsten Fall einen Bruch des Welthandelssystems geben sollte: „Da die Auswirkungen der Fragmentierung auf das BIP der EU so viel größer sind, muss es die oberste Priorität der EU sein, die Welthandelsordnung zu verteidigen, einschließlich der Bemühungen, die Autorität und die Mechanismen der WTO zu stärken“, so die Ökonomen.

Strategische Autonomie: Europa raus aus der Abhängigkeit

Dass der Begriff „strategische Autonomie“ dieser Tage immer wieder fällt, etwa vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron bemüht, liegt nicht zuletzt daran, dass bei der Fähigkeit Europas, eigenständig zu handeln und auf globale Herausforderungen ohne die Hilfe der USA und anderer Großmächte eigenständig zu reagieren, vergleichsweise wenig weitergegangen ist. Diese strategische Unabhängigkeit umfasst ja viele zentrale Bereiche: Sicherheitspolitik, Wirtschaft und Energie. Und der Satz „Europa hat sich von Russland in Sachen Energie, von China in Sachen Lieferketten und von den USA in Sachen Sicherheit abhängig gemacht“ trifft wohl immer noch zu zwei Dritteln zu. Einzig in Sachen Energie wurde die Abhängigkeit von Russland wesentlich reduziert, auch wenn Österreich hier eine unrühmliche Ausnahme darstellt.  

Insbesondere in der Verteidigung muss Europa durch gemeinsame Projekte und höhere Verteidigungsausgaben eine eigene Sicherheitsarchitektur aufbauen. Ein europäisches Verteidigungsbündnis, das die NATO ergänzt, könnte Europas Souveränität stärken und auf Bedrohungen rasch und unabhängig reagieren. 

In wirtschaftlichen Fragen fordert das Konzept der strategischen Autonomie, dass Europa seine Abhängigkeit von US-Technologiekonzernen hinterfragt (Stichwort: Chip Race) und eigene Kapazitäten in Schlüsselbereichen aufbaut. Oftmals scheitern solche Überlegungen allerdings an nationalstaatlichen Grenzen, etwa wenn zwischen europäischen Ländern ein ungesunder Wettbewerb um Subventionen für Investitionen in Schlüsseltechnologien eintritt.

Ein Rückzug der USA aus der Ukraine-Hilfe: Gefährliche Nähe zu Russland 

Trump hat mehrfach die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine infrage gestellt, was eine Schwächung der internationalen Unterstützung und eine Stärkung Russlands bedeuten würde. Ohne die USA müsste Europa eine größere Verantwortung für die Verteidigung der Ukraine übernehmen. Ein europäisches Engagement könnte jedoch auch Chancen eröffnen: Es würde Europas Position als Friedensakteur stärken und eine unabhängige Außenpolitik voranbringen. 

Für die EU wäre es daher ratsam, ihre militärischen und finanziellen Kapazitäten auszubauen, um eine führende Rolle in der Ukraine-Frage zu übernehmen. Das Centre for European Policy Studies empfiehlt, ein gemeinsames EU-Finanzierungsmodell für Verteidigungsprojekte in Osteuropa zu schaffen, um die Sicherheit Europas langfristig zu sichern. Erstmals wird in der nächsten EU-Kommission ein designierter „Commissioner of Defence“ sitzen. Das sind Schritte in die richtige Richtung, doch die Haushalte der EU und ihrer Mitgliedsländer waren in den vergangenen Jahren darauf ausgelegt, die Friedensdividende zu verzehren, nicht in Frieden und Verteidigung zu investieren.

Der Austritt aus der NATO: Europas Sicherheitslage neu gedacht 

Eine zweite Amtszeit Trumps könnte dazu führen, dass die USA ihre Verpflichtungen innerhalb der NATO infrage stellen oder sogar aus dem Bündnis austreten. Dies würde Europa vor die Herausforderung stellen, seine Sicherheitsstrategie eigenständig zu organisieren und die NATO-internen Abhängigkeiten neu zu bewerten. 

Die EU kann durch den Ausbau einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die eigene Handlungsfähigkeit stärken. Aktuelle Studien des Europäischen Verteidigungsfonds zeigen, dass gemeinsame Rüstungsprojekte und eine verstärkte europäische Integration im Verteidigungssektor eine eigenständige Verteidigungspolitik realistischer machen würden (Quelle: The Economist, 2024: Europe Needs to Wake Up and Look After Itself).

Wende in der Klimapolitik: Gefahr für globale Fortschritte 

Eine zweite Amtszeit Trumps könnte eine drastische Kehrwende der US-Politik in Bezug auf den Klimaschutz bedeuten, womöglich einen US-Rückzug aus sämtlichen UN-Organisationen, wie im „Project 2025“ angekündigt. Aus europäischer Perspektive wäre das hochgradig problematisch. Die EU betont zwar immer wieder und gerne die Rolle als globaler Klimavorreiter, doch ohne weltweite Allianz sind viele Maßnahmen nicht effizient. Instrumente wie CO2-Preise oder Reduktionsziele sind vor allem dann sinnvoll, wenn sich viele Länder zu ihnen bekennen. Die EU wird hier ihre Rolle wohl ausbauen müssen und die USA überzeugen, nicht aus gemeinsamen Vorhaben auszusteigen. 

Autokratische Tendenzen und populistischer Aufwind in Europa 

Trump könnte indirekt europäische, antidemokratische Populist:innen inspirieren und dadurch die liberalen Demokratien Europas unter Druck setzen. Ein weiterer Anstieg nationalistischer Tendenzen könnte das gesellschaftliche Gefüge Europas schwächen, zumal sich der Westbalkan als neuer alter Konfliktherd abzuzeichnen beginnt. Schließlich pflegen dortige Stabilokraten gute Beziehungen mit Trump, der mögliche neue Grenzziehungen zwischen Serbien und Kosovo und in Bosnien-Herzegowina befürworten würde. Neue Gewaltausbrüche wären die Folge. Liberale und proeuropäische Parteien müssen antidemokratischen und antieuropäischen Entwicklungen mit klaren und zukunftsweisenden Botschaften entgegentreten. 

Denkfabriken wie das European Liberal Forum empfehlen eine stärkere Fokussierung auf Bildungsprogramme und die Förderung demokratischer Werte. Eine verstärkte Aufklärung über demokratische Prinzipien und der gezielte Ausbau liberaler Netzwerke könnten langfristig dazu beitragen, populistischen Tendenzen in Europa entgegenzuwirken. 

Trumps Wahl: Eine Signalwirkung für Europas Gesellschaftspolitik 

Eine Trump-Rückkehr könnte auch Europas Diskussion um Migration sowie Bürger:innen- und Frauenrechte neu entfachen lassen und schmerzhafte Einschnitte für bisherige Errungenschaften bedeuten. Denn diese Themen waren durchaus ausschlaggebend für die Wahl in den USA. Die Signalwirkung eines Rollbacks an Grund- und Freiheitsrechten könnte sich auch in Europa widerspiegeln. Ein starkes Engagement der EU für den Schutz dieser Rechte wäre daher von entscheidender Bedeutung. Konkreter Handlungsbedarf besteht daher an vielen Ecken und Enden. Nach dem Ohrenklingeln geht es jetzt ums Beinemachen. 

(Bild: EyeEm Mobile GmbH/iStock)

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