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„Der größte Schock für Europa“

"When you are not on the table, you are on the menu." Der Politologe und Russlandexperte Ivan Krastev hat ein osteuropäisches Sprichwort bemüht, als es bei der NEOS-Lab-Diskussion zu „Putin's war against the Liberal Order“ um die Neutralität ging. Auch ihre Rolle und die Position neutraler Staaten werde sich in dem veränderten Sicherheitsumfeld wandeln, denn auch die Ukraine war bis 2014 ein neutraler Staat. Von Dieter Feierabend.

Photo by: Lukas Fassl / NEOS Lab

Am 29.3. diskutierte Krastev mit NEOS Parteichefin Beate Meinl-Reisinger und NEOS Lab Direktor Lukas Sustala über die Auswirkungen des russischen Aggressionskrieges auf die Sicherheitsarchitektur in Europa und welche Lehren Politiker_innen in Europa daraus ziehen sollten. Die gesamte Aufzeichnung kann man hier nachsehen:

poster

Neutralität: Wie wird sie von außen gesehen?

Zur Neutralität verwies Krastev darauf, dass nicht das eigene Selbstverständnis wesentlich sei, sondern wie andere Länder die proklamierte Neutralität sehen. Angesichts harscher Wirtschaftssanktionen werde der Kreml selbst die Schweiz als nicht neutral erleben. Dabei ist auch klar, dass bei einer Veränderung der Sicherheitspolitik gerade neutrale Staaten Einfluss verlieren, da sie sich bei heiklen sicherheitspolitischen Themen nur bedingt einbringen.

Jedenfalls sei durch den Krieg viel in Bewegung geraten: „psychologically, things have changed in Europe“. Hierbei nahm Krastev nicht nur auf die Fehleinschätzungen Putins gegenüber des ukrainischen Widerstandes Bezug, er habe geglaubt, dass es gar keinen Staat Ukraine gebe und die russischen Truppen als Befreier begrüßt würden. Nun könnten weder Russland noch die EU zu der Zeit vor dem Krieg zurückkehren. „Dieser Krieg ist der größte Schock seit Jahrzehnten. Wir dachten, dass ein Krieg in Europa nicht mehr möglich sei. (...) Dass die militärischen Kräfte ihre Bedeutung verloren hätten“, so beschrieb Krastev den europäischen Konsens.  

Krastev erklärte, dass Berichte über Kriegszustände von Betroffenen auf Social Media und Bilder von geflüchteten Menschen mit ihren Haustieren zu starken emphatischen Reaktionen der Bevölkerung in Europa geführt haben. Beate Meinl-Reisinger bestätigte, dass sich gerade die Bilder von Menschen, die ganz offensichtlich schnell nur die allernötigsten Sachen und eben ihre Haustiere zusammengepackt haben, besonders eindrücklich bei ihrem jüngsten Besuch an der ukrainischen Grenze eingeprägt haben. Es seien auch diese Bilder, die dazu geführt hätten, dass der Schock und auch die Solidarität in einer ersten Reaktion in ganz Europa so ausgeprägt waren.

Die zweiten 100 Tage sind entscheidender als die ersten

Auch wenn die Einschätzung zur russischen Bedrohungslage in der EU sehr unterschiedlich sei, so fühlten sich doch viele Europäer an Kriege und Konflikte erinnert, und es sind gerade auch Länder wie Spanien, die sich besonders stark mit der Ukraine solidarisieren. Dieser „public outcry“ habe es ermöglicht, dass europäische Regierungen mit einem Sanktionsregime geantwortet haben, das bisher beispiellos war. Doch es seien „nicht die ersten 100 Tage des Krieges wichtig, sondern die zweiten 100 Tage“, sagt Krastev. Er führt das darauf zurück, dass die bisherige Einigkeit der Europäer nicht als gegeben angesehen werden könne, weil etwa auch die direkte wirtschaftliche Betroffenheit von Öl- und Gasimporten aus Russland unterschiedlich sei. Ebenso ist davon auszugehen, dass mit Verlauf des Krieges auch die hohe Empathie und Aufmerksamkeit der Bevölkerung zurückgehen könnte.

Der Politologe wies darauf hin, dass „Putin may have lost the war, but it is not over”. Denn die Vorstellung, dass Putin schnell und ohne Gegenwehr die Ukraine unterwerfen könne, habe sich zerschlagen. Selbst wenn die kriegerischen Handlungen ein Ende finden, fehle es Europa aber an einer Strategie, wie mit einem extrem feindlich eingestellten Russland politisch umzugehen sei. Es sei wichtig, betonte Beate Meinl-Reisinger „kurzfristig den Druck auf Putin auch mit Sanktionen drastisch zu erhöhen.“

Der liberale Westen gegen die autoritären Regime

Während Europa und die USA in dem Konflikt den Narrativ Demokratien gegen Autokratien bemühen, zeichnet Russland den Konflikt als „West vs. the rest“. Krastev zeigte auf, dass langfristig gesehen Russland hier durchaus Erfolge erzielen könne, beispielsweise wenn sich auf Grund erhöhter Düngemittel- oder Getreidepreise globale Auswirkungen des Krieges zeigten.

Krastev endete mit dem Appell, dass es wichtig sei, jetzt nicht die gesamte russische Bevölkerung, Kultur und Sprache unter Generalverdacht zu stellen. Wie er auch schon in der Financial Times argumentierte, war es für Dissidenten und die Opposition in Osteuropa wichtig , dass sie wussten, dass der Westen ihre Werke las und sich für ihre Themen interessierte. Nur so gelangten die Menschen zur Einsicht: „Autocracy is no fixed destiny“.

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