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Estland und Finnland: Wo Eigenverantwortung großgeschrieben wird

Clemens Ableidinger
Clemens Ableidinger

Auf unserer Bildungsreise konnten wir in Finnland und Estland höchst interessante Einblicke gewinnen. Beide Länder gelten europaweit in Sachen Schulbildung als Vorzeigebeispiele. Das liegt vor allem am hohen Stellenwert, den Bildung in beiden Ländern hat, aber auch am Vertrauen in die Lehrer:innen und Schüler:innen.

Ein Beitrag von Clemens Ableidinger und Silvia Nadjivan, Fotos: Silvia Nadjivan

„Wir haben keine Ressourcen für Überregulierung“ ist der erste, aber nicht der letzte verblüffende Satz, den wir bei „Education Estonia“ zu hören bekommen, einer Initiative des estnischen Bildungsministeriums zur internationalen Bildungskooperation. An diesem Satz zeigt sich eine Grundhaltung, die in Finnland und Estland sehr verbreitet ist, und die man spürt, wenn man finnische und estnische Schulen besucht: ein Vertrauen in die Professionalität der Lehrer:innen. Dieses Vertrauen äußert sich in einem hohen Maß bei der Autonomie für die einzelnen Schulen. Egal ob es um das Personal, die Dauer der Schulstunden oder die Unterrichtsmethoden geht: Die Entscheidung liegt bei der Schulleitung und den Lehrer:innen, vor dem Hintergrund eines zwar einheitlichen Curriculums, jedoch großen Gestaltungsspielraums. 

Vertrauen

Anstelle von Kontrolle wird auf Autonomie und Eigenverantwortung gesetzt, und zwar von klein auf. In jeder estnischen Schule gibt es einen „Selbstlerntag“ (einmal im Monat für die niedrigeren und einmal in der Woche für die höheren Klassen), an dem die Schüler:innen außerhalb der Schule – zu Hause, bei den Großeltern, gemeinsam mit Schulfreund:innen – schulische Arbeitspakete bearbeiten. Natürlich online. Für Fragen stehen die Lehrer:innen zwischen 12 und 14 Uhr in einem Online-Meeting zur Verfügung. An diese Art des eigenverantwortlichen Arbeitens werden schon die Kleinsten herangeführt. Zuerst durch selbstständige Phasen innerhalb der Klasse, der Schule und später eben zu Hause.

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An oberster Stelle stehen kritisches Denken, selbstbestimmtes Handeln und die Liebe zur Kreativität.

Überhaupt können sich Schüler:innen stark in die Gestaltung ihrer Schule einbringen: sei es durch die künstlerische Gestaltung der Wände und Räume mit ihren Bildern und Skulpturen oder das Mitbestimmungsrecht bei der Bestellung von neuen Lehrer:innen. Auch scheint das Wohlbefinden aller – Lehrer:innen und Schüler:innen gleichermaßen – wichtig zu sein. Denn in der finnischen Lehrer:innen-Ausbildung bildet das Fach „School as Community“ einen fixen Bestandteil. Lehrkräfte sind somit von Anfang an für die Gruppendynamik innerhalb der Klasse sensibilisiert. Ein Mentoring-Programm begleitet die Lehramtsstudierenden ebenso, wie sie später in ihrem Beruf ihre Schüler:innen als Mentor:innen betreuen. In Estland geht dies sogar so weit, dass gemäß dem Berufsethos die Lehrer:innen für den Schulerfolg ihrer Schüler:innen mitverantwortlich sind. Sobald die schulische Leistung eines:r Schüler:in nachlässt, geben entweder sie oder Kolleg:innen umgehend Nachhilfestunden, um ein Sitzenbleiben des:der Betroffenen möglichst zu vermeiden.

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Bei hellen Farben und positiven Botschaften kommt die „Motivasioon“ im Lernzyklus nicht zu kurz.

Digitalisierung

Wie die Digitalisierung im Schulkontext funktionieren kann, zeigt vor allem Estland. Seit 2004 sind alle Schulen an das Internet angeschlossen. Jede Schule hat eine eigene digitale Arbeitsumgebung und einen eigenen „Education Technologist“ (m/w/x), der den Lehrkörper bei der digitalen Umsetzung von Unterricht und der Verwendung neuer Werkzeuge unterstützt. Dieser positive Zugang zum Thema Technologie findet sich auch auf der Ebene der Verwaltung.

Das 2004 etablierte estnische Informationssystem bietet im Sinne der Transparenz alle vorhandenen Daten zu den Curricula, Schulen, Prüfungsvorlagen und Prüfungsergebnissen für alle online zum Nachschauen an, egal ob es sich um die Schulgröße (in Quadratmetern), den Notendurchschnitt der Abschlussprüfungen, das Sprachen- oder das Geschlechterverhältnis handelt. Relativ neu ist die 2017 eingeführte National Satisfaction Survey. Dabei werden Lehrer:innen und Schüler:innen regelmäßig nach verschiedenen Kriterien befragt: u.a. Wohlbefinden und Bullying. Zeigt eine Schule besondere negative Auffälligkeiten, wird ihr Unterstützung bei der Lösung bestehender Probleme angeboten. Die Erfassung von Daten und deren transparente Präsentation sind somit nicht nur reiner Selbstzweck, sondern bilden die Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen.

Autonomie und Innovation

Neben einer weit verbreiteten Wertschätzung von Bildung und Schule sind es somit vor allem zwei Dinge, die Besucher:innen aus Österreich ins Auge springen: die schulische Autonomie und die Innovationsfreude. Lehrer:innen werden als Profis wahrgenommen, die für alles, was im Klassenzimmer passiert, Expert:innen sind. Dadurch sind sie in pädagogisch-didaktischen Fragen völlig frei, allerdings gelten sie damit auch als verantwortlich für den Erfolg der einzelnen Schüler:innen. Estland beweist darüber hinaus, dass technologische Innovationen sinnvolle Ergänzungen für die Bildung sein können – nicht nur weil sich damit neue Unterrichtsmethoden entwickeln lassen, sondern auch weil den Schüler:innen damit neue und mehr Bildungsinhalte zur Verfügung gestellt werden. Höchst beeindruckend ist dabei die enge Kooperation mit EdTech-Start-ups, deren Plattformen und Apps ein verstärkt personalisiertes Lernen für Schüler:innen und Erleichterungen in der Schulverwaltung ermöglichen. Damit interagieren Wissensfreude, Autonomie und Innovation auf allen Ebenen, wodurch das Schulsystem neuen Herausforderungen nicht mehr nur hinterherhinkt, sondern selbst wesentliche Akzente für die Zukunft von Bildung und Arbeit setzt.

Über die Reise

Silvia Nadjivan und Clemens Ableidinger aus dem NEOS Lab begaben sich Mitte März auf eine Bildungsreise nach Finnland und Estland, wo sie Schulen sowie Bildungsinnovatoren und Ministerien besuchten und vieles über die dortigen Bildungssysteme erfuhren. Mit dabei waren die Abgeordneten Beate Meinl-Reisinger und Martina Künsberg Sarre, deren Mitarbeiter:innen sowie die Landes- und JUNOS-Vertretung Tirol.

Das Titelbild dieses Beitrags zeigt die öffentliche KI-unterstützte Bibliothek Helsinkis. Dort kann man nicht nur gratis Bücher ausleihen, sondern auch kostenlos 3D-Drucker verwenden, im Tonstudio eigene Musik aufnehmen, für zwei Stunden Online-Games spielen oder einfach bei köstlichem Kaffee die freundliche Atmosphäre genießen.

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