Zum Inhalt springen
Bitte geben Sie einen Suchbegriff ein.

EU-Begeisterung allein reicht nicht

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Die EU hatte schon mal bessere Zeiten. Die geopolitische Situation ist völlig verändert und die liberale Demokratie von innen und außen bedroht. Umso wichtiger ist jetzt unser aller Einsatz fürs gemeinsame Europa, denn mit Enthusiasmus allein ist es nicht getan.

War noch der Slogan „Wir sind Europa“ zu Zeiten des EU-Referendums 1994 und des EU-Beitritts von Österreich 1995 omnipräsent, so verläuft die Europa-Debatte heute zumeist entlang polarisierter Positionen. Auf der einen Seite rufen proeuropäische Kräfte zu einer gemeinsamen Wirtschafts-, Energie- und Verteidigungsunion auf. Auf der anderen Seite hetzen antidemokratische Parteien gegen die bisherigen europäischen Errungenschaften. Das alles bildet den Hintergrund für das aktuelle 30-jährige Jubiläum der österreichischen Mitgliedschaft. Und genau diese stand im Mittelpunkt des NEOS-Lab-Paneltalks „Frischer Wind für Europa. 30 Jahre in der EU sind erst der Anfang“ am 12. Juni 2025 Am Heumarkt. In Kooperation mit dem NEOS-Büro in Brüssel und der liberalen Parteienfamilie Renew Europe gestaltete das NEOS Lab mit renommierten Expert:innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft einen gut besuchten und vielseitigen Diskussionsabend.

Die Leviten gelesen

Alles andere als eine Lobeshymne auf den Status quo bot die international anerkannte Politikwissenschafterin Sonja Puntscher Riekmann vom Salzburg Centre of European Studies in ihrer Keynote. Im Gegenteil las sie den Beteiligten sozusagen die Leviten. Unruhige Nächte bereite ihr der Umstand, dass gerade die EU-feindlichen, rechtspopulistischen Parteien in vielen EU-Ländern und auf EU-Ebene die meisten Stimmenzugewinne gemacht haben. Dagegen seien die bisherigen proeuropäischen Lösungen für aktuell pressierende Probleme unzureichend. „Es gibt keinen funktionierenden Kapitalmarkt“ und „eine wirkliche europäische Fiskalunion ist auch nicht in Sicht.“ Stattdessen blühe mit gegenseitigen Schuldzuweisungen der Nationalismus auf, während Regierungsspitzen nach Moskau, Kiew oder sogar in die USA reisen, um nationalstaatliche Vorteile herauszuholen, nicht gesamteuropäische. „Damit kann man nicht zufrieden sein, weil die EU nach außen nicht handlungsfähig ist.“ Demokratiedefizite verortete sie außerdem beim europäischen Institutionenaufbau, also eine Dominanz der Exekutive, sprich EU-Kommission, und der nationalen Regierungen im EU-Rat, während das EU-Parlament eine zu geringe Kontrollfunktion habe. 

Sonja Puntscher Riekmann am Rednerpult

„Es gibt kaum ein Nachdenken darüber, was Demokratie im supranationalen Raum bedeutet.“

Sonja Puntscher Riekmann

Die EU ist kein Staat

In diesem Sinn ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten, den Begriff Souveränität auf die EU anzuwenden; denn Souveränität ist ein Staatsbegriff, beruhend auf dem Souverän, also den Bürger:innen, so die Politikwissenschafterin. Abgesehen davon, dass die EU kein Staat und noch dazu in ökonomischer energie- und verteidigungspolitischer Hinsicht nicht souverän sei, wüssten die Menschen zudem nicht, wer letztlich entscheide. Ihre Keynote beendete Puntscher Riekmann mit der Aufforderung zu einer „feingliedrigeren Analyse“ der aktuellen Lage anstelle eines reinen Enthusiasmus.

Frage nach der europäischen Identität

Dass es bei der EU aber auch um Gefühle geht, verdeutlichte der anschließende Paneltalk unter Moderation von NEOS-Lab-Geschäftsführerin Helga Pattart-Drexler. Allein der Rückblick auf den EU-Beitritt Österreichs vor 30 Jahren oder die damit verbundenen Annehmlichkeiten wie verstärkte Reisefreiheit und Einführung des Euros ließ den Veranstaltungssaal in Erinnerungen schwelgen. Bei der Frage nach der europäischen Identität wurde schnell klar, dass man sehr wohl mehrere Identitäten gleichzeitig haben könne, von der lokalen bis zur europäischen. Gerade auf Reisen fühle er sich als Europäer, betonte MEP und NEOS-Lab-Präsident Helmut Brandstätter. Einen wichtigen Beitrag leiste dazu auch das Erasmus+-Programm der EU, wodurch junge Menschen in ganz Europa studieren können, erläuterte Jakob Calice, Geschäftsführer von OeAD – Agentur für Bildung und Internationalisierung. Die Nachfrage nach den durch Erasmus+ ermöglichten Auslandaufenthalte steige jedes Jahr um 5 bis 10 Prozent und seien, so Calice, auch eine Form der Demokratiebildung, die allerdings vorerst die EU-affinen jungen Leute erreiche.

Helmut Brandstätter, MEP und Präsident des NEOS Lab

„Je mehr konservative und grüne Parteien im EU-Parlament zusammenarbeiten, desto mehr spüre ich die europäische Identität.“

Helmut Brandstätter

Gestärkt durch die äußere Bedrohung

Mit Rekurs auf den Souveränitätsbegriff appellierte Mario Holzner, Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), dass spätestens jetzt rund um die gemeinsame Verteidigung mehr gemeinsame Ausgaben notwendig seien: „Solange nur ein Prozent der Staatseinnahmen in das EU-Budget fließt und damit vor allem in den Landwirtschaftsfonds, wird es keine gemeinsame Verteidigung geben.“ Und: „Wir müssen einen Staat haben.“ Daran anschließend resümierte Calice: „Die europäische Identität wird durch die neue geopolitische Situation und die Bedrohung von außen, durch Russland und jetzt durch die unberechenbaren USA, gefestigt.“

Jakob Calice

„Die europäische Identität wird durch die neue geopolitische Situation und die Bedrohung von außen, durch Russland und jetzt durch die unberechenbaren USA, gefestigt.“

Jakob Calice

Vertrauen als zentrale Voraussetzung

Bei der Frage, was man alles für Europa tun würde, wird es schon schwieriger. Laut Rebekka Dober, Gründerin und Geschäftsführerin von YEP (Youth Empowerment Participation) vertrauen fünf von zehn Jugendlichen Europa nicht, weil sie sich ausgeschlossen fühlten. Denn: „Junge Menschen brauchen jemanden, der das Projekt Europa mit ihnen durchgeht. Genau das können wir verändern.“ Der Fokus ihrer Organisation liegt auf die Einbindung von politisch nicht aktiven bzw. desinteressierten jungen Menschen – den sogenannten „disengaged“ im Unterschied zu den „engaged“, also politisch Interessierten und Aktiven. D.h. man müsse mit ihnen aktiv arbeiten. „Wir müssen junge Menschen als Expert:innen ihres eigenen Lebens akzeptieren und ihnen zuhören.“

Daran anschließend kritisierte Puntscher Riekmann, dass die Ergebnisse der Konferenz für die Zukunft für Europa – zumindest entgegen der offiziellen EU-Darstellung – nicht ausreichend weiterverwendet und umgesetzt wurden. Stattdessen seien die Anliegen und Empfehlungen der daran beteiligten Bürger:innen schubladisiert worden. In Zukunft sollte ihrer Ansicht nach das EU-Parlament dazu verpflichtet werden, auf Vorschläge von Bürger:innen einzugehen und eine etwaige Ablehnung auch schriftlich zu begründen. Letztlich geht es auch um vertrauensbildende Maßnahmen.

Foto (101 of 170)

Auf dem Podium: Helmut Brandstätter, Rebekka Dober, Mario Holzner, Sonja Puntscher Riekmann, Jakob Calice, Helga Pattart-Drexler

Ehrlicher Dialog notwendig

Breite Übereinstimmung gab es im Panel darüber, dass ein ehrlicher Dialog über die derzeit bestehenden Herausforderungen notwendig ist. So fordert die liberale Parteienfamilie einen Konvent, d.h. eine Reform des EU-Vertrags, um das EU-Parlament in seiner Funktion zu stärken und den EU-Rat zu schwächen. Eine weitere Neuerung fordert auch der vielrezipierte Draghi-Report, der laut Holzner Europa beeinflussen wird. Denn: „Der Draghi-Bericht ist ein revolutionärer Text. Er spricht von einer gemeinsam auferlegten Staatsverschuldung und massiven Investitionen pro Jahr.“ Genau das würde dem Großteil im EU-Parlament nicht passen, daher gibt es auch keine Kommunikation darüber.

Stockende EU-Erweiterung

Ähnlich verhalte es sich laut Holzner mit der stockenden EU-Erweiterungen der Westbalkanländer (WB6). Auf EU-Spitze gebe es kein Interesse an der Integration der WB6, während neue EU-Kandidaten dazukämen. Genauso wenig thematisiert werde, dass weder die EU-Spitze noch die aktuelle türkische Staatsführung Interesse an einem EU-Beitritt habe, so Puntscher Riekmann. Gerade die WB6-Integration sei gemäß Holzner aber „für uns selbst wichtig“, weil die Tiefe der EU mit der Erweiterung einhergehe. Denn: „Erst die immer näher kommende Erweiterung erzeugt den Druck darauf, dass man sich überlegen muss, wie man die größere Union managen kann. Nur so kann man gemeinsam denken.“ Denkbar wäre, 2030 als nächstes EU-Erweiterungsjahr festzulegen, so Holzner, und wer bereit sei, könne beitreten. In diesem Zusammenhang forderte Brandstätter, auf EU-Ebene offen die Probleme in den EU-Kandidatenländern anzusprechen, dass es z.B. nicht in Ordnung ist, wenn in Serbien Telefongespräche abgehört, Medien Restriktionen ausgesetzt und Oppositionelle ins Gefängnis gesteckt werden; das alles mit dem Ziel, die seit dem Bahnhofsunglück in Novi Sad andauernden landesweiten liberaldemokratischen Proteste gegen Korruption zu unterdrücken. Auf dem Weg sei gerade der EU NGO Security Act, zum Schutz zivilgesellschaftlichen Engagements in Europa, aber auch im Sinne transparenter Geldflüsse an NGOs.

Foto (114 of 170)-3930x5405

„Erst die immer näher kommende Erweiterung erzeugt den Druck darauf, dass man sich überlegen muss, wie man die größere Union managen kann. Nur so kann man gemeinsam denken.“

Mario Holzner

Kampf gegen Desinformation

Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung der europäischen Demokratie betonte Calice, dass die jetzt Zehn- bis Zwanzigjährigen wichtig seien, wovon viele EU-skeptisch seien und noch nicht von proeuropäischen Initiativen wie Erasmus+ erreicht werden. Dober problematisierte: „Junge Menschen fühlen sich nicht gehört, obwohl wir sie ernst nehmen müssen.“

Parallel dazu müsste aufseiten der EU massiv in Digitalisierung und in den Kampf gegen Desinformation wie in den European Democracy Shield investiert werden, so Brandstätter. Als Good Practice nannte er die Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO), die dem Kampf gegen Desinformation verschrieben, jedoch noch weitgehend unbekannt ist.

Foto (111 of 170)-4273x5120

„Junge Menschen fühlen sich nicht gehört, obwohl wir sie ernst nehmen müssen.“

Rebekka Dober

Neue Formen der politischen Beteiligung

Dober zufolge müssten in der heutigen Demokratie neue Beteiligungsformen geschaffen werden. Denn unter jungen Menschen wie auch insgesamt werde eher das Gemeinsame als das Trennende gesehen. Medienbildung und Aufklärung müssten laut Dober viel weiter vorangebracht werden, und zwar gemeinsam mit jungen Menschen. Außerdem müssten Medien als vierte Säule der Demokratie gestärkt und Social Media als wichtiger Teil davon anerkannt werden. „Gerade Parteien, die Social Media ernst nehmen, profitieren davon. Dass das vor allem populistische sind, ist schade.“

Frischer Wind fürs gemeinsame Europa

Was es jetzt brauche, so der Konsens, sind institutionelle Räume, wo Debatten über verschiedene Interessen strukturiert geführt werden und sich politisch interessierte Menschen einbinden können. Jetzt stelle sich die Frage, so Puntscher Riekmann, wer diese Räume zur Verfügung stellen könne, damit sich alle, die sich für liberale Demokratie und ein gemeinsames Europa einsetzen wollen, auch die Möglichkeit dafür bekommen. Der Enthusiasmus für Europa ist die Grundlage für die gemeinsame Arbeit am gemeinsamen Europa. Frischen Wind braucht also die konstruktive Weiterentwicklung des gemeinsamen Europa. Das NEOS Lab wird somit in Zukunft, so Pattart-Drexler, seinem Auftrag folgen und seinen Beitrag dazu leisten. Der angeregten Podiumsdiskussion folgten ein gleichermaßen dynamischer Austausch und besinnlicher Ausklang.

Gewiss wurde einmal mehr, dass in Zeiten von Polarisierung und Hetze ein differenzierter Dialog dringend notwendig ist, um die längst überfälligen konstruktiven EU-Reformen rational anzugehen – eben mit brennendem Enthusiasmus im Herzen und klaren Visionen im kühlen Kopf.

(Fotos: Stefan Popovici Sachim)

Vielleicht interessieren dich auch diese Artikel

Firefly Eine Regenbogenflagge, die im Wind weht 955944-2688x1513
17.06.2025Silvia Nadjivan3 Minuten

Pride Parade: Still im Auftakt, laut in der Forderung

Die diesjährige Pride Parade in Wien stand unter dem Eindruck des Amoklaufs in Graz . Der Auftakt war still und dem Gedenken an die Opfer und deren Angehörige gewidmet. Die Forderung nach Gleichberechtigung war umso lauter.

Mehr dazu
Foto(168of170)-7364x4142
17.06.2025Silvia Nadjivan3 Minuten

Frischer Wind für Europa

Anlässlich Österreichs 30-jähriger EU-Mitgliedschaft organisierte das NEOS Lab am 12. Juni 2025 einen Paneltalk am Heumarkt. Dabei ging es darum, einerseits auf die bisherigen Errungenschaften und andererseits auf die notwendigen Reformen für die EU zu blicken.

Mehr dazu
Ein Mikrofon vor einer Menschenmenge
05.06.2025Silvia Nadjivan4 Minuten

Die Rettung der liberalen Demokratie betrifft uns alle

Die liberale Demokratie gerät zusehends in Gefahr, indem antieuropäische und insbesondere rechtspopulistische Parteien durch Wahlen laufend an Einfluss und Macht gewinnen. Gefragt sind jetzt liberaldemokratische und vor allem liberale Kräfte, Europa vor einem autokratischen Wandel zu bewahren.

Mehr dazu

Melde dich für unseren Newsletter an!