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Der Angriffskrieg Russlands hatte nicht nur die Ukraine zum Ziel, sondern die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur, argumentiert Constanze Stelzenmüller im NEOS Lab-Podcast #amPunkt. Warum Europas Sicherheit aktuell nur „gegen Russland“ gelingen kann und Österreichs kurzsichtige Interpretation der Neutralität einer Selbstentmündigung gleichkommt, schildert die Sicherheitsexpertin, die kürzlich in Wien die „Rede an die Freiheit 2023“ gehalten hat.
Wer genau hinsieht, muss erkennen, dass der Kreml mit dem brutalen Angriff auf sein Nachbarland die gesamte europäische Sicherheitsordnung ins Visier nimmt. „Putin hat eine Vorstellung, ich würde sagen, eine Wahnvorstellung, von einem Kontinentaleuropa, das insgesamt eine russische Einflusssphäre ist“, stellt die internationale Sicherheitsexpertin Constanze Stelzenmüller im Podcast-Gespräch mit dem NEOS Lab klar.
Gleich zu Beginn möchte die internationale Außen- und Sicherheitspolitikexpertin geklärt wissen, dass „die Antwort auf diese Frage mehrere Ebenen“ hat – nämlich zuallererst auch schlicht jene „der mitmenschlichen Empathie, des Anstands, der Werte“.
„Hier wird eine friedliche Bevölkerung seit mehr als 15 Monaten von einer nuklear bewaffneten Großmacht mit Krieg überzogen, mit Raketen und Drohnen und Bomben beschossen. Es werden Kinder deportiert und zu Zwangsadoptionen freigegeben. Es werden Menschen gefoltert, misshandelt, vertrieben. Millionen ukrainische Bürger sind entweder im Land disloziert oder auf der Flucht außerhalb des Landes. Ich finde, das ist eigentlich ein Sachverhalt, der jeden anständigen Menschen ins Mark erschüttern muss. Das ist eine Verletzung der Grundprinzipien des internationalen Zusammenlebens.“
Dennoch wird mit Andauern des Krieges und seinen Folgen zunehmende „Kriegsmüdigkeit“ spürbar. Rekordinflation und hohe Energiepreise lassen die Akzeptanz für die Sanktionen gegen Russland schwinden, bei vielen Menschen überschatten der Ärger über die allgemeine Teuerung und die Sorge um das eigene Auskommen mehr und mehr die Loyalität der ukrainischen Bevölkerung gegenüber.
„Natürlich ist es so, dass uns dieser Krieg unmittelbar betrifft. Durch die Flüchtlingsbewegung und die Maßnahmen, die wir ergriffen haben. Sanktionen, militärische Hilfe, diplomatische Unterstützung, um der Ukraine zu helfen und unsere Missbilligung auch klar zum Ausdruck zu bringen. Einige von uns, vor allen Dingen Deutschland, haben sich sehr resolut von russischen Energiequellen abgekoppelt.“
Ganz anders in Österreich: Seit Kriegsbeginn ist und bleibt man Putins bester Gas-Kunde, wie Daten jüngst gezeigt haben – das NEOS Lab hat berichtet.
Im direkten Vergleich zeigt sich außerdem, dass die Gaskosten unsere Hilfen an die Ukraine enorm übersteigen:
Kriegsmüde Stimmen, die nach Bereitschaft zu Verhandlungen und Kompromissen rufen, insbesondere in Richtung Ukraine, werden merklich lauter. Fast möchte man den Eindruck erlangen, so manche seien wenn schon nicht der Realitätsverweigerung, so doch einem gewissen Zweckphlegma verfallen – ein Eindruck, den auch Daten untermauern: In keinem anderen Land stimmen so wenige Menschen wie in Österreich zu, dass der russische Angriff auf die Ukraine eine Gefahr für ganz Europa darstellt. (Eurobarometer)
Jenen, „die denken, man kann sich ausklinken und es sei uns möglich, den Ukrainern zu sagen, ihr müsst jetzt einfach das Recht des Stärkeren akzeptieren“, richtet die Sicherheitsexpertin aus: „Ich glaube, dass das ein Denkfehler ist.“ Denn Putins brutaler Angriff auf die Ukraine habe letztlich das gesamte Europa im Visier.
„Der Kreml hat im Dezember 2021, also noch drei Monate vor Kriegsbeginn, einen Vertragsentwurf in doppelter Ausfertigung nach Washington und ins NATO-Hauptquartier nach Brüssel geschickt. Der lässt sich zusammenfassen als eine, im Grunde genommen, Mitteilung, man wolle, dass die europäische Sicherheitsordnung nach russischem Gutdünken und Ideen umgestaltet werde. Das kann man in drei Punkten zusammenfassen: Uns passt die demokratische Transformation Osteuropas nicht. Wir wollen, dass Westeuropa demilitarisiert wird. Und wir wollen den Abzug der USA aus Kontinentaleuropa. Ende. Und spätestens da, würde ich sagen, berührt es uns alle.“
Klare Worte findet die Außen- und Sicherheitspolitikexpertin in diesem Zusammenhang auch für die hiesige (gar nicht erst richtig geführte) Neutralitätsdebatte. In der gängigen Argumentation nämlich – die sich in der Regel einzig auf das sture Verweisen auf Österreichs „verfassungsmäßig mandatierte Neutralität“ beschränkt – wird ein nicht unwesentliches Detail gerne geflissentlich übergangen: die sogenannte Beistandsklausel.
„Österreich ist Mitglied der EU und hat mit dem EU-Vertrag den Artikel 42, Absatz 7 mitunterzeichnet. Das ist eine gegenseitige Beistandsverpflichtung, die im Grunde genommen das Äquivalent ist des Artikels 5 im NATO-Vertrag. Das heißt, in der Hinsicht ist Österreich jedenfalls nicht neutral. Und die Frage ist auch, ehrlich gesagt, ob diese Selbstverpflichtung auf Neutralität wirklich noch der politischen Realität entspricht. Und ob das sicherheitspolitisch nicht eigentlich eine, wie soll ich sagen, Selbstentmündigung ist.“
Eine sicherheitspolitische Bequemlichkeit, der man sich, auch laut der internationalen Sicherheitsexpertin, letztlich wohl nur deshalb hingeben kann, „weil de facto Österreich vom amerikanischen Nuklearschirm und von der NATO mitbeschützt ist. Ich glaube, wenn die NATO nicht existieren würde, könnte man sich vorstellen, dass Österreich über das Thema Neutralität, insbesondere angesichts des aktuellen russischen Verhaltens, völlig neu nachdenkt.“
Die NATO hält Stelzenmüller tatsächlich nicht für „das eigentliche Problem des Kremls“. Nicht das ukrainische Ansinnen eines NATO-Beitritts habe „im Kreml die Alarmglocken schrillen lassen“, sondern die Tatsache, dass die Ukraine sich mehr und mehr Richtung Europa orientierte.
Als Kiew 2014 beschloss, „ein sogenanntes vertieftes Handelsabkommen mit der EU abzuschließen“, war laut Stelzenmüller wohl „der Punkt, wo im Kreml klar wurde: Die Ukrainer betreiben jetzt eine Form von rechtlicher und wirtschaftlicher Verflechtung mit der EU, die möglicherweise Pfadabhängigkeiten schafft und für uns wirtschaftliche und andere Zugriffsmöglichkeiten auf die Ukraine stark einengt“. Dass man in Russland gute zehn Jahre verstreichen ließ, bevor man „handelte“, führt die Expertin auf eine schlichte Fehleinschätzung des Kremls zurück: „Man hat, glaube ich, total unterschätzt, wie entschlossen die ukrainische Zivilgesellschaft und eine demokratische Reformbewegung war, den Weg nach Europa einzuschlagen. Der Kreml hat wirklich gedacht, wenn wir am Ende einmarschieren, haben wir das in ein paar Tagen plattgemacht, und dann gehört das für immer uns. Dieser gewaltigen Fehleinschätzung verdanken wir die Tatsache, dass die Ukrainer immer noch unabhängig sind und um ihr Überleben kämpfen.“ Ein Kampf, den sie nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte freie Welt führen.
Befragt nach einem realistisch denkbaren Szenario für ein Kriegsende, erwidert die Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik: Eine „friedliche gütliche Einigung zwischen den EU- und NATO-Staaten und Russland und der Ukraine“ hält die Sicherheitsexpertin jedenfalls „für den unwahrscheinlichsten Fall“ – und hält fest:
„Auf absehbare Zeit müssen wir die Sicherheit Europas als eine Sicherheit gegen Russland und nicht mit Russland konzipieren. Das ist tragisch. Auch für die russische Zivilbevölkerung, von denen bereits viele emigrieren und noch mehr emigrieren werden. Auch das wird Folgen für die Politik in Europa haben.“
Warum sie der „Mode“, von einem „Kalten Krieg 2.0“ zu sprechen, nicht viel abgewinnen kann und darin eine falsche Begrifflichkeit sieht und für wie wahrscheinlich sie einen Sieg der Ukraine hält?
Zu hören im gesamten Podcat-Gespräch mit Constanze Stelzenmüller:
1.000 Tage Krieg in der Ukraine – und kein Ende des russischen Angriffs in Sicht
Vor 1.000 Tagen hat Putins Russland Völkerrechtsbruch begangen und seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine mit immenser Brutalität begonnen. Vor dem Hintergrund teils unzureichender internationaler Hilfe, unzähliger Opfer und enormer Schäden stehen die Aussichten für die Ukraine aktuell nicht gut. Umso mehr muss sie jetzt unterstützt werden.
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Auf die zweite Präsidentschaft von Donald J. Trump ist Europa besser vorbereitet, doch bei den Investitionen in die Resilienz der europäischen Institutionen ist noch viel Luft nach oben. Insbesondere Berlin zählt zu den Hauptstädten, die die Dringlichkeit massiv unterschätzt haben. Was muss Europa auf dem Schirm haben, um „Trump-proof“, also Trump-sicher, zu werden? Eine kurze Analyse von Silvia Nadjivan und Lukas Sustala.
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