Sommerpause für unsere Sicherheit?
Der Nationalrat hat sich in die Sommerpause verabschiedet – ohne eine längst überfällige neue Sicherheitsstrategie für Österreich zu beschließen. Das ist fatal, denn der Krieg in Europa macht keine Pause.
Nach Marathonsitzungen bis zum 6. Juli hat sich der Nationalrat inzwischen in die Sommerpause verabschiedet. Bis zum letzten Freitag im Juni wurden noch 60 Gesetze eilig beschlossen. Dementsprechend groß war unter den Regierungsparteien die Erleichterung kurz vor Ferienbeginn.
Auf der Strecke geblieben ist in dieser Legislaturperiode allerdings die lang angekündigte und dringend notwendige Sicherheitsstrategie. Dass diese noch vor der Nationalratswahl am 29. September beschlossen wird, erscheint höchst unwahrscheinlich, zumal das Parlament planmäßig erst am 18. und 19. September tagen wird. Damit bleibt die Österreichische Sicherheitsstrategie (ÖSS) von 2013 nach wie vor gültig. Darin wird ja – entgegen jeglicher realpolitischen Situation seit dem tobenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – Russland nach wie vor als „strategischer Partner“ bezeichnet.
Nicht mehr als eine Absichtserklärung
Was sich bisher auf derselben Website des Bundeskanzleramts findet, ist der mit 5. April 2023 datierte Vortrag an den Ministerrat, gemeinsam unterzeichnet vom ÖVP-geführten Bundeskanzleramt sowie Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium, mit dem Schluss: „Wir stellen daher den Antrag, die Bundesregierung wolle eine Weiterentwicklung der österreichischen Sicherheitsstrategie unter Federführung des Bundeskanzleramtes einleiten und das Ergebnis dem Nationalrat bis Ende 2023 zur Debatte zuleiten.“ Abgesehen von innerkoalitionären, auch international blamablen Streitigkeiten hat sich bis zur aktuellen Sommerpause diesbezüglich nichts getan. Und das, obwohl uns auf europäischer und internationaler Ebene die Ereignisse quasi davonlaufen.
Rasche Handlungsbereitschaft in russischer Nachbarschaft
Wie schnell politischer Konsens möglich ist, haben bisher neutrale Staaten wie Finnland und Schweden bewiesen. Unmittelbar nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 haben die Regierungen beider Länder rasch reagiert. Mit breiter Unterstützung seitens der Opposition und innerhalb der Bevölkerung haben die finnische und die schwedische Regierung um die NATO-Mitgliedschaft angesucht. Angesichts der geografischen Nähe bzw. unmittelbaren Nachbarschaft zum Kriegstreiber Russland war das Bewusstsein vor dieser neuen Gefahr entsprechend ausgeprägt. Mittlerweile ist Finnland seit April 2023 das 31., Schweden seit März 2024 das 32. NATO-Mitglied – also ein Jahr später infolge von machtpolitischen Verzögerungstaktiken seitens des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und ungarischen Premierministers Viktor Orbán. Dieser verzögerte – neben Rumänien – übrigens auch die Ernennung des neuen NATO-Generalsekretärs Mark Rutte, des ehemaligen liberalen niederländischen Premierministers. Rutte wird kommenden Oktober Jens Stoltenberg in dieser Funktion ablösen.
Nägel mit Köpfen in Europa
Wie schnell man sich auch auf EU-Ebene einigen kann, zeigt neben der EU-Sanktionspolitik gegen Russland auch die rasche Besetzung der EU-Spitzenfunktionen nach den Europawahlen im Juni. Ursula von der Leyen von der Europäischen Volkspartei (EVP) wurde als EU-Kommissionspräsidentin im EU-Rat wiedergewählt, der ehemalige sozialdemokratische Premier Portugals António Costa von der S&D-Fraktion zum Präsidenten des EU-Rats nominiert. Die Funktion der EU-Chefdiplomatin und damit Nachfolge von Josep Borrell soll die liberale Regierungschefin Estlands Kaja Kallas von der Renew Europe Group antreten. Was jetzt noch aussteht, ist deren Wahl bei den nächsten Sitzungen im EU-Parlament Mitte Juli und September. Benötigt wird hier eine klare Mehrheit, um auch Nägel mit Köpfen machen zu können.
Mit Kallas an der Spitze der EU-Außenpolitik würde die Europäische Union auf jeden Fall ihre gemeinsame Position gegenüber den russischen Kriegsverbrechen und für die Unterstützung der Ukraine klar verdeutlichen. Schließlich zählt Kallas zu jenen namhaften politischen Entscheidungsträger:innen, die von Anfang an vor der hybriden Kriegsführung Russlands gegen Europa gewarnt haben. Kurz nach der diesjährigen, vom NEOS Lab organisierten, Rede an die Freiheit im österreichischen Parlament ist sie auf die russische Fahndungsliste gesetzt worden, was sie wenig zu beeindrucken scheint. Was sie dagegen fordert, ist eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Klar zur Sprache gebracht hat Kallas bei ihrem Besuch in Österreich unsere beispiellose Abhängigkeit vom russischen Gas, verbunden mit einer eben fehlenden aktuellen Sicherheitsstrategie. In ihrer neuen Funktion erhält derartige Kritik auch neue Qualität – zumal der Krieg in Europa keinen Urlaub macht.
Stillstand in Österreich
Während unserer Sommerfrische scheinen uns die internationalen Ereignisse und Entwicklungen davonzugaloppieren. Die europäische Sicherheitsarchitektur steht kopf, Russland führt nicht nur einen imperialistischen Krieg gegen die Ukraine, sondern auch einen geoökonomischen Krieg gegen Europa. Mit künstlicher Energieknappheit, laufenden Cyberangriffen, Spionagenetzwerken (Stichwort: BVT-Skandal), Finanzierung von antidemokratischen sowie populistischen Parteien und der angestrebten Kontrolle von Migrationsströmen versucht es, Europa von innen und außen in die Knie zu zwingen. Russlands neue Allianz mit China als sogenannter Drachenbär soll zudem die globalen Machtverhältnisse zugunsten autokratischer Großmächte verschieben. Der US-Wahlkampf mit trüben Aussichten für den aktuellen Präsidenten Joe Biden ist in vollem Gang. Eine verminderte militärische Unterstützung Europas durch einen neuerlichen Wahlsieg von Donald Trump scheint in naher Zukunft immer realistischer zu werden. Das gescheiterte Attentat auf Trump dürfte dessen Popularitätswerte steigern.
Klare Linie dringend notwendig
Vor dem Hintergrund geopolitischer Verschiebungen ist nicht auszuschließen, dass mit der neu zusammengestellten Kommission und Chefdiplomatin Kaja Kallas Europa noch vor Österreich eine gemeinsame Linie in Sachen Sicherheit und Verteidigung finden wird. Denn seit 2023 gibt es einen Entwurf der Steuerungsgruppe für eine neue Sicherheitsstrategie. Die Koalitionsregierung hat sich jedoch bis zum heurigen Sommer nicht darauf einigen können, weil es vor allem bei der Frage zur Diversifizierung des Energiesektors keinen Kompromiss gibt. Eine ehrliche Debatte über die österreichische Neutralität bleibt ebenfalls auf der Wartebank, wofür allerdings die Zeit davonläuft. Letztlich geht es um die Sicherheit, inklusive Versorgungssicherheit für uns alle.
Einen möglichen Ausblick auf Österreichs zukünftige Position im globalen Kontext bietet die Geopolitik-Expertin Velina Tchakarova. Weitere Ausführungen und Empfehlungen folgen in ihrem demnächst erscheinenden NEOS Lab Policy Brief.
(Bild: Montage unter Verwendung eines Fotos von Parlamentsdirektion/Thomas Topf)
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