Ein Policy Brief von Dieter Feierabend, Silvia Nadjivan, Lukas Sustala
Krieg mitten in Europa: Der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine stieß in Europa die breiteste und lauteste sicherheitspolitische Debatte seit dem Kalten Krieg an. Dieser Policy Brief analysiert, wie die Stärkung der europäischen Sicherheit gelingen und welchen Beitrag Österreich dabei spielen kann.
Die Studie im Überblick
Der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist gleichzeitig ein Angriff auf die europäische Sicherheit und die Demokratie. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union wirft er eine Menge Fragen auf – und löst damit die lauteste sicherheitspolitische Debatte seit dem Kalten Krieg aus. Eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheint dringender denn je.
Um das Ziel eines geopolitisch starken Europa zu erreichen, ist es Aufgabe jedes EU-Mitgliedstaats, dafür zu sorgen, unerwünschter Einflussnahme von Dritten keine Angriffsfläche zu bieten. Um dahingehend keine Schwachstelle zu sein, ist Österreich aufgerufen, einen offenen und ehrlichen Diskurs über die nationale Sicherheit und die Rolle der Neutralität innerhalb Europas zu führen.
Für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gilt die zentrale Regel: Sei niemals selbst die Schwachstelle. Durch die enge Verbundenheit der EU-Mitgliedstaaten ist es für Gegner Europas ein Leichtes, durch Ausbeutung der Schwächen eines Glieds in der Kette alle anderen negativ zu beeinflussen. Gleichzeitig sind große, wohlhabende, einfallsreiche Mitgliedstaaten gefordert, nicht nur die Löcher in ihren eigenen Schutzschilden zu stopfen, sondern aus eigenem Interesse kleineren, ressourcenärmeren Staaten mit Rat, Tat und finanziellen Mitteln zur Seite zu stehen.
Die Weltpolitik steht vor einer Wende, weg vom unipolaren System unter US-amerikanischer Führung hin zu einem bipolaren oder gar multipolaren System mit konkurrierenden regionalen Mächten vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen. Um im Konkurrenzkampf zwischen den USA und China nicht zerrieben zu werden, muss sich die EU geopolitisch neu aufstellen.
Eine vertiefende sicherheits- und verteidigungspolitische Integration Europas scheiterte bisher erstens an unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen und Sicherheitsprioritäten der Mitgliedstaaten und zweitens an der mangelhaften europäischen Industriepolitik im Rüstungssektor. Solange einzelstaatliche Wirtschaftsinteressen und heimische Industrieunternehmen wichtiger sind als europäische Beschaffungsvorgänge, wird aus Europa auch kein autarker Global Player.
1. Europas Beziehung zu den USA
Durch historische Verbindungen, aber auch aktuelle zentrale Bündnisse wie die NATO war Europa bisher – trotz wachsender wirtschaftlicher Abhängigkeiten von China – ein Verbündeter der USA. Mit der Verschärfung des Konkurrenzverhältnisses zwischen den USA und China ist die EU gefordert, ihre langfristige Position in diesem Spannungsfeld zu entwickeln, um nicht zwischen den Fronten zerrieben zu werden.2. Mangelhafte europäische Rüstungsindustriepolitik
Solange europäische Beschaffungsvorgänge dadurch verunmöglicht werden, dass bei potenziell gemeinsamen Beschaffungsprozessen alle Mitgliedstaaten mit nennenswerter Rüstungsindustrie darauf bestehen, dass ihre eigenen Industrieunternehmen profitieren, wird Europa in der weiteren sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration keine Fortschritte machen.3. Unerwünschte außereuropäische Einflussnahme auf unsere Demokratien
Während die wirtschaftlichen Sanktionen die europäischen Abhängigkeiten von Russland reduzieren (sollen), setzt Europa notgedrungen teils auf andere Energiezulieferer, wie z.B. China. Die Auswirkungen dieser Einflussnahme werden Europas Handlungsspielraum in den nächsten Krisen bestimmen.4. Sicherheitsbedrohung Klimawandel
Infolge des Ukraine-Kriegs geriet Europa in eine Energiekrise, man kehrte zu unsaubereren Energieformen wie Kohle zurück. Der Ausbau der Erneuerbaren hat jedoch nicht die Geschwindigkeit erreicht, die es bräuchte, um eine kurze Dauer bei dieser provisorischen Rückkehr zu garantieren. Auch weiterhin behandelt Europa die Klimakrise nicht als die akute Sicherheitsbedrohung, die sie ist.5. EU-Erweiterungspolitik
Innerhalb der EU gibt es bezüglich Erweiterung jene, die von geopolitischen Notwendigkeiten sprechen, und jene, die auf Prozesse, Regeln und Beitrittskriterien hinweisen. Klar ist, dass ein Beitrittsprozess, der im Falle der Westbalkan-Staaten eine Bevölkerung von ca. 17 Millionen Menschen meint, unverhältnismäßig viele Kapazitäten der Europäischen Union bindet, auch was ihre Aufmerksamkeitsspanne und ihre Multitaskingfähigkeit betrifft.
europa, summe der lösungen
Zahlen & Fakten
45 %
sprechen sich in Österreich für eine schnellere EU-Kandidaten-Aufnahme aus (Eurobarometer, Juni 2022)
+100 Mrd. Euro
jährlicher Umsatz der europäischen Luftfahrt- und Rüstungsindustrie
+500.000 Jobs
verantwortet die europäische Luftfahrt- und Rüstungsindustrie
EU-Rüstungsbetriebe: Starkes Konkurrieren
Führende asiatische und ozeanische Rüstungsunternehmen verzeichnen 2021 gemeinsam ein deutlich größeres Wachstum als Europas Top-27- Rüstungsfirmen zusammen.
Europas Wettbewerbsfähigkeit leidet darunter, dass die Rüstungsbetriebe seiner Mitgliedstaaten stark miteinander konkurrieren.
Österreich braucht eine Sicherheitsstrategie
NEOS Lab Senior Researcherin Silvia Nadjivan mit einer Antwort auf die Frage, warum Österreich sich nicht länger hinter seiner Neutralität verstecken darf.
handlungsempfehlungen
USA: Beziehungsstatus klären
Europa muss Klarheit in die Beziehung zu den USA bringen. In einem multipolaren System, in dem Europas stärkster und wichtigster Partner USA heißt, müssen gegenseitige Verpflichtungen und rote Linien klar definiert werden.
EU-Rüstungsindustriepolitik
Europäische Rüstungsindustriepolitik muss eine allen bewusste Grundlage der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden.
Abwehr unerwünschter äußerer Einflussnahme
Die Idee „Zusammen sind wir stärker“ ist nur dann tragfähig, wenn sichergestellt wird, dass Dritte nicht für Europa, in Europa oder über Europas Kopf hinweg entscheiden können.
Klimawandel: Sicherheitsthema Nr. 1
Klimapolitische Maßnahmen sind das zentrale Thema europäischer und weltweiter Sicherheit. Glaubwürdige und expertisenbasierte Klimadiplomatie oder Klima-Außenpolitik müssen langfristig die außenpolitische Priorität Europas werden.
EU-Erweiterungspolitik zügig abschließen
Die EU-Erweiterung war nie als ewiges Großprojekt für ganze Bürokratieapparate gedacht. Die EU soll von ihren (zukünftigen) Mitgliedern nicht nur die Einhaltung von bestehenden Regeln, sondern klare Bekenntnisse und Beiträge zum Europa der Zukunft verlangen und ihnen so wichtige gestaltungspolitische Rollen verleihen.