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Offene Baustellen für die neue Regierung

Silvia Nadjivan
Silvia Nadjivan

Die türkis-grüne Koalition wird als bisher längste demokratisch gewählte Regierung in die österreichische Geschichte eingehen. Es gab keine folgenschweren Skandale oder Zerwürfnisse, die zu vorgezogenen Wahlen geführt hätten. Was aber auch fehlt, sind Reformen in wesentlichen Bereichen. Eine Übersicht von Silvia Nadjivan und Lukas Sustala.

Welche Regierung auch immer als Nächstes gebildet wird, auf sie warten viele offene Baustellen, vor allem bei Wirtschaft, Bildung und Transparenz. Nicht nur, dass zahlreiche Versprechen aus dem türkis-grünen Regierungsprogramm nicht erfüllt wurden, so wird die Ausgangslage für die nächste Regierung weitaus schwieriger als noch 2019 sein. Um ein Bild über die zutiefst verzwickte Lage zu bieten, werden ausgewählte Baustellen näher beleuchtet.

Startkapital: Milliardendefizit

Allein das erst kürzlich bekannt gewordene Budgetdefizit von 14 Milliarden Euro wird als enormer Schuldenberg die nächste Regierung erwarten. Um die Maastrichtkriterien in nächster Zukunft erreichen zu können, wird die nächste Regierungskoalition ein Sparpaket von 2,5 Milliarden Euro schnüren müssen. Das steht im klaren Widerspruch zu vielen Aussagen im Wahlkampf. Dass neue Budgetzahlen just vier Tage nach der geschlagenen Wahl bekannt werden, ist ein handfester Budgetskandal. Doch darauf kann sich die nächste Regierung nicht ausruhen: Sie muss vernünftig sparen, auch um das Vertrauen in den Staat wiederherzustellen. Besonders großen Bedarf gibt es bei den Förderungen: Die wurden in „Koste es, was es wolle“-Manier deutlich ausgeweitet – oft mit zweifelhafter Wirkung. Österreich steckt in der längsten Rezession seit 1946, während gleichzeitig die Staatsausgaben davongaloppieren. 

Steuerentlastung auf der Wartebank

„Mehr Netto vom Brutto“ haben mehrere Parteien im Wahlkampf gefordert, allen voran NEOS. Dass die ÖVP wieder einmal (so wie 2008, 2013, 2017 und 2019) gefordert hat, die Steuerbelastung auf 40 Prozent des BIP zu senken, gehört wohl zu dem, was man gemeinhin Wahlkampffolklore nennt. Außer dass die kalte Progression abgeschafft wurde – eine langjährige NEOS-Forderung –, ist bisher aber in Sachen Steuersenkung nicht viel passiert. Die nächste Regierung wird also den Spagat zwischen Steuerentlastung und Budgetsanierung schaffen müssen, auch im Hinblick auf die Attraktivierung des Wirtschaftsstandorts Österreich.

Veraltetes Bildungssystem

Um allen Kindern eine chancengerechte Bildung zu garantieren, unabhängig vom jeweiligen sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund, sind bundesweite Reformen unerlässlich. Während sich die Gesellschaft in Österreich laufend ändert, muss man für die letzte große Bildungsreform laut Eigendefinition des Ministeriums ins Jahr 1962 zurückgehen. Bei vergleichsweise hohen Budgetausgaben liefert das derzeitige Bildungssystem weder für Lehrkräfte noch Eltern noch Kinder wirklich gute Ergebnisse. Aktuell herrscht eklatanter Lehrer:innenmangel, bedingt durch die aktuelle Pensionierungswelle und fehlenden beruflichen Nachwuchs. Um den Lehrer:innenberuf zu einem der schönsten Berufe in Österreich zu machen und dabei Kindern die Flügel zu heben, muss das Bildungssystem grundlegend reformiert und attraktiviert werden. Neben strukturellen Reformen muss auch Demokratiebildung ausgebaut werden – für eine Stärkung der liberalen Demokratie durch mündige Bürger:innen.

Unvollständige Geschlechtergleichheit

Noch immer sind Frauen von Altersarmut am meisten betroffen, weil sie diejenigen sind, die vorwiegend für Kinderbetreuung und Care-Arbeit aufkommen müssen. Veraltete Geschlechterrollen können zwar nicht in einer Regierungsperiode verändert werden, jedoch kann die Anzahl der Kinderbetreuungsplätze, auch für Kinder unter drei Jahren, so weit ausgebaut werden, dass Frauen genauso wie Männer Vollzeit arbeiten können und damit der Gender-Pay-Gap verringert wird. Sobald Männer genauso wie Frauen für Kindererziehung zuständig sind, erübrigt sich die Benachteiligung am Arbeitsmarkt. Erleichterungen bis hin zur Automatisierung beim Pensionssplitting stehen genauso auf der To-do-Liste der nächsten Regierung.

Höchste Zeit für eine Pensionsreform

Apropos Pensionen: Im Wahlkampf hat sich auch die Alterssicherungskommission zu Wort gemeldet. Die nächste Regierung müsse eine Pensionsreform auf den Weg bringen. Das gesetzliche Antrittsalter sollte langfristig auf 67 steigen, forderte die Leiterin der Alterssicherungskommission, Christine Mayrhuber. Kurzfristig müsste jedenfalls das tatsächliche Alter, mit dem sich die Österreicher:innen in (Früh-)Pension verabschieden, steigen. Ein Vergleich mit skandinavischen Ländern zeigt, wie effizient ein Pensionsantrittsalter wie in Schweden, Dänemark oder den Niederlanden das Budgetloch schließen würde, das derzeit von den Steuerzahler:innen gestopft wird.

Vernachlässigte Migrations- und Integrationspolitik

Zu lange wurde auf linker Seite bei Problemen bezüglich Immigration und Integration weggeschaut, auf rechter Seite zum Stimmenfang ausschließlich problematisiert. Was es dringend braucht, ist eine sachliche Migrations- und Integrationspolitik, die Lösungen und nicht Probleme groß macht. Schließlich ist Österreich seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, auch wenn das so manche Politiker:innen nicht wahrhaben wollen. Und Zuwanderung, vor allem qualifizierte, ist gerade in einigen Bereichen aufgrund eines grassierenden Arbeitskräftemangels sogar nötig. Um Ghettoisierung und Parallelgesellschaften zu vermeiden, müssen aber richtige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Zuwander:innen die deutsche Sprache beherrschen, in Österreich arbeiten und liberaldemokratische Grundwerte anerkennen.

Gesundheitssystem zersplittert und intransparent

Das Gesundheitssystem ist im internationalen Vergleich kostenintensiv, jedoch völlig zersplittert und durch einen Kompetenz-Wirrwarr zwischen Bund, Ländern und Krankenkassen intransparent. Um den Menschen in Österreich einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen und den Kostendruck im Blick zu behalten, muss das Gesundheitssystem grundlegend reformiert werden. Das beinhaltet eine Finanzierung aus einer Hand, mehr Primärversorgungszentren, bessere Kooperation zwischen den einzelnen Gesundheitsberufen und bessere, transparentere Wege zu den Gesundheitsdiensten für alle Versicherten. Mehr ambulant als stationär sollte jedenfalls die Devise sein, genauso wie ein verstärktes Angebot von Gruppenpraxen. Und schließlich geht es um einen verstärkten Fokus auf Bewusstseinsbildung und Prävention statt auf Behandlung von Krankheiten. Nur so kann man die Gesundheit von mündigen sowie selbstbestimmte Bürger:innen stärken. Dazu gehört auch die psychische Gesundheit und damit Psychotherapie für alle auf Krankenschein.

Beschlossene Transparenz bleibt unzureichend

In Österreich lässt es sich noch immer gut munkeln im Dunkeln. Das Amtsgeheimnis wurde in dieser Legislaturperiode zwar abgeschafft, jedoch gelten zu viele Ausnahmen bei der heuer gesetzlich beschlossenen Informationsfreiheit. Diese betreffen etliche Gemeinden unter 5.000 Einwohner:innen, wodurch Österreich von etlichen „Dunkeldörfern” übersät ist. Mehr Transparenz und Sparsamkeit sind in vielen Bereichen erforderlich, so in Sachen staatliche Förderungen, allen voran Parteienförderungen.

Neue Sicherheitsstrategie als reine Absichtserklärung

Zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und einen Monat vor den Nationalratswahlen hat sich die türkis-grüne Regierung auf eine neue Österreichische Sicherheitsstrategie (ÖSS) geeinigt – wohlgemerkt per Umlaufbeschluss und ohne Einbindung des Parlaments. Was übrig bleibt, ist eine Absichtserklärung der ausgedienten Regierung. Schließllich ist die nächste Regierungskoalition nicht wirklich in der Pflicht, diese neue Sicherheitsstrategie umzusetzen. Und genau diese müsste beim nächsten Regierungsprogramm zuvorderst stehen, um endlich die Abhängigkeit vom russischen Gas zu beenden und die Sicherheit in Österreich angesichts der neuen geopolitischen Lage nachhaltig zu sichern. Denn Österreich macht sich einerseits anfällig, Ziel hybrider Kriegsführung zu werden, andererseits finanziert es nach wie vor den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit.

Fehlende Medienfreiheit

Zwar feiert heuer die ORF-Vorgängerin RAVAG (Radio-Verkehrs AG) heuer ihren 100. Geburtstag, dem das ORF-Radio einen gebührenden Schwerpunkt widmet. Viel zu feiern gibt es allerdings nicht. Denn mit dem neuen ORF-Gesetz sind zwar der ORF-Internet-Auftritt und die Gebührenabgabe als Haushaltsabgabe neu geregelt, der parteipolitische Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bleibt nach wie vor bestehen. Verabsäumt wurde nämlich, die Besetzung der ORF-Stiftungsräte gesetzlich neu zu regeln. Eine weitere große Baustelle hat auch die Inseratenaffäre der ÖVP-FPÖ-Regierung bis 2019 hinterlassen, die ebenfalls von der nächsten Regierung ernst genommen und in der nächsten Legislaturperiode gesetzlich unmöglich gemacht werden muss. Diese Reformen sind heute besonders wichtig, weil in Zeiten von Desinformation und Fake News politisch unabhängige, verifizierte und qualifizierte Medienarbeit eine Säule liberaler Demokratie ist.

Kein Plan für Klimaschutz

Nachdem es noch immer kein neues Klimaschutzgesetz gibt, das einen Plan zum Erreichen der EU-Klimaziele beinhaltet, muss die nächste Regierung auch hier nacharbeiten. Nicht einigen konnte sich die türkis-grüne Regierung auf die Sektorziele, nämlich in welchen Bereichen wie viele CO2-Emmissionen reduziert werden müssen. In der Folge gibt es kein bundesweit gültiges Klimaschutzgesetz. Bisher hat Wien als einziges Bundesland ein neues Klimaschutzgesetz beschlossen. Ganz oben auf der Agenda steht für die nächste Bundesregierung also, einen konkreten Fahrplan für Klimaschutz im Sinne der EU-Richtlinien auszuarbeiten, und auch komplizierte Doppel-Regulierungen auf EU- und österreichischer Ebene zu vermeiden.

Justizreform dringend notwendig

Fast hätte es geklappt, unter der türkis-grünen Regierung eine unabhängige Bundesstaatsanwaltschaft einzuführen. Jedoch waren die Positionen letztlich so verhärtet, dass es dann doch zu keinem finalen Gesetzesentwurf gekommen ist. Somit bleibt die Staatsanwaltschaft nach wie vor dem Justizministerium unterstellt, eine komplett unabhängige Gerichtsbarkeit den Bürger:innen verwehrt. Hinzu kommt, dass sich Grüne und ÖVP bisher auf kein neues Gesetz zur Handysicherung und Datenverarbeitung einigen konnten. Gemäß dem letztlich zurückgezogenen Gesetzesentwurf wäre die Staatsanwaltschaft stärker auf die Polizei angewiesen und in ihrer Arbeit zusätzlich eingeschränkt worden. Fraglich bleibt also, ob man sich zumindest auf die Gesetzesvorlage zur Handysicherung einigt und noch vor Ende der Legislaturperiode dem Nationalrat zu Abstimmung vorlegt.

Keine Reformen ohne Staatsreform

Die nächste Bundesregierung erbt auch deswegen so viele Baustellen, weil viele Kompetenzen oft unklar zwischen Gemeinden, Ländern und dem Bund geregelt sind. Über den Finanzausgleich wird zwar regelmäßig versucht, Probleme mit Geld zu lösen, doch das greift oft zu kurz – wie das Gesundheitssystem zeigt, das zwar im internationalen Vergleich über hohe Ressourcen verfügt, aber gleichzeitig unter Engpässen und Mängeln leidet. Eine mutige Reformagenda in Österreich kommt nicht aus, ohne den Föderalismus zu verändern. Dafür braucht es auch ein regelmäßiges Benchmarking: Die 9 Bundesländer müssen stärker am effizienten Mitteleinsatz gemessen werden. So schätzen Ökonomen, dass bis zu 18 Milliarden Euro an Effizienzpotenzialen vorliegen, ohne eine Leistung für die Bürger zu kürzen.

Einhalten von EU-Prinzipien

Obwohl rückblickend betrachtet die EU bei den letzten Nationalratswahlen (NRW) in öffentlichen Debatten selten genannt wurde, wird Europa für die nächste Regierung eine große Rolle spielen. Immerhin darf die zukünftige Regierung supranationale Beschlüsse und Richtlinien nicht ignorieren. Schließlich liegen die nachhaltigen Lösungen für komplexe Probleme auf europäischer Ebene. Das zeigt besonders deutlich der Fall des EU Asyl- und Migrationspakts. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen auf europäischer Ebene wurde er endlich letzten April vom EU-Parlament und EU-Rat beschlossen, um schon wieder infrage gestellt zu werden. Denn inzwischen gibt es von rechtspopulistischer Seite Forderungen nach Ausnahmeregelungen und Lockerungen, allen voran aus den Niederlanden und Ungarn. Die nächste Regierung in Österreich wird sich daher umso mehr an bindendes EU-Recht halten müssen, nicht zufällig erscheint hier die Nominierung von ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner zum zukünftigen EU-Kommissar für Asyl und Migration. Im Fokus sollte der Schutz von gemeinsamen EU-Außengrenzen liegen, nicht Grenzen untereinander aufzuziehen. In diesem Sinn wäre auch das bisherige Schengen-Veto Österreichs gegenüber Bulgarien und Rumänien abzuschaffen.

Wenngleich hier lang nicht alle offenen Baustellen skizziert sind, wird ersichtlich, dass die neue Regierung, wie auch immer zusammengesetzt, ehestmöglich die Ärmel hochkrempeln und Reformen für die Menschen in Österreich angehen muss.

(Bild: BKA)

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